Finster
schnappte sie mit den Zähnen, und Casey zog den Stiel ab. Die Kirsche rollte in meinem Mund herum. Ich bekam sie zwischen die Backenzähne und drückte ein wenig darauf herum. Sie war weich und prall. Etwas Flüssigkeit sickerte heraus. Dann zerbiss ich die Kirsche, und mein Mund wurde von dem süßen Saft überschwemmt.
»Du hast die verbotene Frucht gegessen«, flüsterte Casey. »Dafür wird dein Arsch in der Hölle schmoren.«
Beinahe hätte ich laut losgelacht, doch ich konnte mich gerade noch zurückhalten. »Vielen Dank auch«, sagte ich.
Casey kicherte leise, drehte den Deckel auf das Glas und stellte es zurück in die Kühlschranktür.
»Können wir jetzt gehen?«, fragte ich.
»Wann immer du so weit bist, Eddie.« Sie schloss die Tür, und die Küche versank in Dunkelheit.
42
Wir gingen durch die Hintertür aus der Küche in den Garten. Nach der Dunkelheit im Haus schien die Nacht draußen geradezu hell. Wir standen auf der erhöhten Terrasse vor der Tür und sahen uns um.
Keine Spur von dem Mann, der uns verfolgt hatte.
Auch sonst war niemand zu sehen.
Wir stiegen die paar Stufen zum Garten hinunter und gingen um das Haus herum. An der vorderen Ecke blieben wir im Schatten stehen und warteten lange Zeit reglos.
Niemand in Sicht.
»Ich glaub, die Luft ist rein«, sagte ich.
»Sieht so aus.«
Weiterhin wachsam gingen wir zum Bürgersteig vor.
»Ich bleib noch eine Weile bei dir«, sagte Casey. »Dann machen wir besser Schluss.«
»Musst du noch woandershin?«
Sie nahm meine Hand. Wir gingen auf die nächste Kreuzung zu. »Ich habe einiges zu erledigen«, sagte sie. »An verschiedenen Orten.«
»So wie Mariannes Haus?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Marianne ist meine Freundin. Ich besuche sie, wenn sich die Gelegenheit ergibt.«
»Aber nicht oft genug.«
»Das Haus kam uns gelegen, oder?«
Ich nickte und fragte: »Sorgt sie dafür, dass die Tür für dich offen ist?«
»Das ist nicht nötig. Ihre Eltern schließen nie ab.«
»Und sie haben keine Ahnung, dass du dich hereinschleichst?«
»Nein, überhaupt nicht. Wenn sie es herausfänden, würden sie in Zukunft die Tür abschließen. Auch wenn mich das nicht aufhalten würde.«
»Du gehst auch rein, wenn die Türen abgeschlossen sind?«
Sie strahlte mich an. »Das ist meine Spezialität.«
»Du bist wirklich ein böses Mädchen.«
Ihr Lächeln bekam Risse. »Findest du?«
»Eigentlich nicht.«
»Gut. Ich nämlich auch nicht.«
»Wieso sind verschlossene Türen deine Spezialität?«
»Ich bin gut darin, sie zu öffnen.«
»Und in fremde Häuser einzudringen?«
»Die Leute schließen ihre Türen nicht ab, um mich fernzuhalten. Sie machen sich mehr Sorgen um Einbrecher und Mörder und andere Verkörperungen des Bösen.«
»Oder vielleicht wollen sie auch jeden aussperren, der nicht eingeladen ist.«
Wieder lächelte sie mich an. »Möglicherweise würden sie mich einladen, wenn sie mich kennen würden.«
»Da bin ich sicher.«
»Marianne ganz bestimmt.«
»Aber nicht ihre Eltern.«
»Wohl kaum. Man kann nicht jedem gefallen, und ich versuch es auch gar nicht erst. Das ist das Schöne, wenn man nachts durch die Gegend zieht: Man ist meistens auf sich selbst gestellt und muss sich nicht um andere Leute kümmern. Man kann sie beobachten. Man kann sich vor ihnen verstecken. Man kann sie sogar ziemlich gut kennenlernen, wenn man will, und das, ohne dass sie einen selbst kennen.«
»Als wäre man unsichtbar.«
»Genau.«
»Und deshalb hast du dir angewöhnt, in die Häuser der Leute zu schleichen?«
Ihr Lächeln verflüchtigte sie. »So was soll eben einfach vorkommen.«
»Warum tust du es?«
»Warum nicht?«
»Es ist verboten. Es ist gefährlich.«
»Es ist aufregend.«
»Ist das der Grund?«, fragte ich.
»Ich mach es einfach. Es gefällt mir, und ich mache es. Du hast es heute Nacht selbst getan. Was hast du dir dabei gedacht?«
»Ich hab gedacht, du würdest da wohnen. Du hast sogar gesagt, es wäre dein Haus.«
Sie drückte meine Hand. »Das war in übertragenem Sinne gemeint, du Genie.«
»Wie kann einem das Haus eines andern in übertragenem Sinne gehören?«
Ohne nachzudenken sagte sie: »Während ich drin bin, ist es so, als gehörte es mir.«
»Das ist an den Haaren herbeigezogen.«
»Vielleicht.«
Plötzlich kam mir ein Gedanke und erfüllte mich mit Sorge und Mitleid. »Hast du überhaupt ein Zuhause?«
»Wieso fragst du das?«
»Du streunst die ganze Nacht durch die Gegend und gehst in die
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