Finstere Gründe
Sauberkeit strahlend, nach Shampoo und Badesalzen duftend, in einen leuchtendroten Bademantel gehüllt und mit einem weißen Handtuch um den Kopf, öffnete Sergeant Lewis sofort die Tür, händigte ihm den Schlüssel zum Gewehrschrank aus und stand daneben, als er das Gewehr sehr vorsichtig herausnahm — einen Finger am Ende des Laufs, einen unter dem Kolben — und es in einen Plastikbehälter legte. Auf dem Bord über dem Gewehrständer lagen zwei Kataloge von Büchsenmachern, doch Patronen waren weit und breit nicht zu sehen.
Lewis hielt das Gewehr jetzt an der Mitte des Laufs, bedankte sich bei Mrs. Michaels und ging wieder; er hörte das Klirren der Kette und den dumpfen Aufschlag der Bolzen, als die Frau des Försters die Tür hinter ihm verriegelte. Einen Augenblick lang fragte er sich, was sie in diesem Augenblick empfinden mochte. Verwirrung vielleicht? Oder Panik? Es war schwierig gewesen, den Ausdruck der Augen hinter der schwarzumrandeten Brille zu deuten. Mrs. Michaels war überhaupt nicht gerade mitteilsam; Lewis kam plötzlich zum Bewußtsein, daß sie nicht ein einziges Wort gesprochen hatte, während er dagewesen war.
Es war jetzt völlig dunkel, und der Sergeant spürte eine leichte Nervosität, als er auf dem stillen Waldweg die Scheinwerfer voll aufblendete.
Kapitel siebenundfünfzig
falstaff: Wir haben die Glocken um Mitternacht spielen hören, Herr Schaal.
SCHAAL: Ja, das haben wir, das haben wir, das haben wir; meiner Treu, Sir John, das haben wir
(Shakespeare, Henry IV., Zweiter Teil)
Von den vier Männern, die übereingekommen waren (wie Morse jetzt glaubte), eine gemeinsame Aussage über den Mord an Karin Eriksson zusammenzubrauen, streifte nur McBryde in jener Nacht frei durch Oxford. Um 18.30 Uhr war er im Eagle and Child eingekehrt, seine wenigen Übernachtungsutensilien in einer Reisetasche aus Segeltuch bei sich, hatte ein Käsebrot gegessen, zwei Ffalbe hervorragendes Burton Ale getrunken und begonnen, sich Gedanken über ein Bett für die Nacht zu machen. Um 19.45 Uhr hatte er vor der St. Giles’ Church einen Nr. 20-Bus nach Kidlington erwischt, mit dem er die Banbury Road bis zur Squitchey Lane gefahren war und es dann beim Cotswold House versucht hatte (ihm von Hardinge empfohlen), doch an dem bleigefaßten Fenster der Eingangstür hing ein Schild: KEINE ZIMMER FREI. Genau gegenüber an der anderen Straßenseite aber stand das Casa Villa, und hier war noch ein Doppelzimmer zu haben (das letzte). McBryde nahm das Zimmer und dachte dabei, wie viele Männer es vor ihm getan hatten, daß das Mieten von zwei zusätzlichen Quadratmetern Bettfläche etwas Verschwenderisches an sich hatte — und etwas Trauriges.
Etwa um die Zeit, als McBryde seinen Pyjama auspackte und seine Zahnbürste in eines der beiden Gläser in seinem Badezimmer en suite steckte, stand Philip Daley auf und zählte seine Münzen. Er hatte den 14.30-Bus von Gloucester Green erwischt. Günstiger Fahrpreis — die Rückfahrkarte für Erwachsene kostete nur 4 Pfund. Aber es war etwas enttäuschend, daß die einfache Fahrt praktisch ebensoviel kostete, und echt zum Kotzen, daß der Fahrer es ablehnte, seine fast zutreffende Behauptung, er gehe noch zur Schule, zu akzeptieren. Um 18.30 Uhr saß er gegen die Mauer eines Bürogebäudes neben dem Bonnington Hotel in der Southampton Row gelehnt, vor sich einen grau-orangefarbenen Schal so arrangiert, daß er die Münzen eines Stroms von mitleidigen Passanten (so hoffte er) aufnehmen konnte. Neben ihm lag ein Stück Pappe, auf dem in schwarzer Kugelschreiberschrift die Worte ARBEITSLOS HEIMATLOS HUNGRIG standen. Einer der Jungs aus Oxford hatte ihm gesagt, FRIERE UND HABE HUNGER wirke am besten, aber der Frühsommerabend war mild und warm, und es spielte ohnehin keine Rolle, nicht an diesem ersten Abend. Er hatte 45 Pfund in der Tasche und nicht die Absicht, zu hungrig zu werden. Er wollte einfach sehen, wie die Sache lief — das war alles.
Sie lief allerdings nicht besonders gut, schien die Antwort auf sein Experiment zu sein: Er fühlte sich wie zerschlagen, und ihm war sogar (ja!) ein bißchen kalt, und an Münzen waren nicht mehr als 83 Pence zusammengekommen. Wahrscheinlich sah er noch immer zu gut gekleidet, zu gut ernährt, zu wenig bedürftig aus. Um 21 Uhr ging er hinunter in ein Pub in Holborn und bestellte eine Halbe Bier und zwei Beutel Chips: 2.70 Pfund. Verdammter Beschiß! Es wurde auch nicht gerade einfacher, als ein Jugendlicher mit rasiertem
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