Finstere Gründe
bißchen hungrig?»
«Ja, werde ich. Hungrig und durstig. Wenn wir vielleicht eins von diesen durchgehend geöffneten Lokalen finden könnten...»
Aber sie kamen nicht viel weiter. Das Autotelefon klingelte, und Morse nahm selbst den Hörer ab. Lewis konnte keines der Wörter am anderen Ende der Verbindung verstehen — nur Morses abgehackt ausgestoßenen Worte.
«Was?»
«Sind Sie sicher ?»
«Verdammte Scheiße!»
« Wer?»
«Verdammte Scheiße!»
«Ja.»
«Ja!»
«Zweieinhalb Stunden, denke ich.»
«Nein! Lassen Sie alles genauso, wie es ist.»
Morse legte den Hörer auf und starrte vor sich hin wie ein verzagter Zombie.
«Hat es etwas mit dem Fall zu tun?» fragte Lewis ängstlich zögernd.
«Sie haben eine Leiche gefunden.»
«Wessen?»
«George Daley. Erschossen. Durchs Herz.»
«Wo?»
«Blenheim. Blenheim Park.»
«Puh! Da hat doch Johnson...»
«Johnson hat ihn gefunden.»
Plötzlich hatte Lewis das Gefühl, er brauche ein Bier beinahe ebenso dringend wie Morse, aber während sie sich Oxford immer mehr näherten, sagte Morse überhaupt nichts mehr.
Kapitel fünfundfünfzig
THANATOPHOBIE, die: Krankhafte Angst vor dem Tode oder (manchmal) vor dem Anblick des Todes; quälendes Bewußtsein menschlicher Sterblichkeit, beinahe universell, ausgenommen bei jenen, die auf dem Olymp leben
(Small’s English Dictionary)
Dr. Laura Hobson kniete wieder neben der Leiche; diesmal sahen ihre leuchtenden haselnußbraunen Augen zu einem anderen Chief Inspector auf: nicht zu Johnson, sondern zu Morse.
«Sie sind der Meinung, daß er sofort tot war?» fragte Morse.
Sie nickte. «Ich bin keine Ballistikexpertin, aber möglicherweise war es eine dieser Sieben-Millimeter-Kugeln, die Sorte, die sich bei Berührung ausdehnt.»
«Die Sorte, mit der man Rotwild tötet», fügte Morse leise hinzu.
«Manchmal ist es...» sie berührte die Leiche, «manchmal ist es schwierig, die Einschußstelle zu finden. Aber hier nicht. Sehen Sie.»
Sie zeigte mit ihrem schlanken Finger auf ein blutverkrustetes Loch, wenig größer als der Durchmesser eines Bleistifts, eben unter dem linken Schulterblatt des Mannes, der mit dem Gesicht nach unten neben ihnen auf dem Boden lag. «Aber Sie werden sehen, daß es nie große Probleme mit der Austrittsstelle gibt.» Vorsichtig drehte sie die Leiche auf die rechte Seite und zeigte auf ein größeres Loch, das eben unter dem Herzen aufgerissen worden war, ein Loch, das fast die Größe einer Mandarine hatte.
Diesmal jedoch sah Morse nicht hin. Er war den Anblick des Todes natürlich gewohnt, aber Unfälle und schreckliche Verletzungen und viel Blut waren Dinge, die er nicht ertragen konnte. Er wandte die Augen also ab und richtete die Blicke für eine Weile auf die stille Schneise im Wald, wo vor so kurzer Zeit jemand George Daley von hinten erschossen hatte und zweifellos stehengeblieben war und beobachtete, wie Daley zusammenbrach und völlig regungslos unter der riesigen Eiche liegenblieb. Und die Besitzer von Sieben-Millimeter-Gewehren? Morse kannte zwei, David Michaels und George Daley. Und was sonst man auch in Frage stellen mochte — es war völlig ausgeschlossen, daß George Daley sich mit seinem eigenen Gewehr erschossen hatte.
«Irgendwelche Vorstellungen, wie lange er schon tot ist?» fragte Morse.
Dr. Hobson lächelte. «Das war immer die allererste Frage, die Sie Max stellten.»
«Hat er Ihnen erzählt?»
«Ja.»
«Nun, er hat mir die Antwort nie gesagt — mir nie gesagt, wie lange, meine ich.»
«Soll ich es Ihnen sagen?»
«Ja, bitte!» Morse lächelte zurück und fand sie in diesem Augenblick sehr attraktiv.
«Zehn bis zwölf Stunden. Nicht länger als zwölf, glaube ich. Ich setze auf zehn.»
Morse, der meistens nicht auf die Zeit achtete, warf jetzt einen Blick auf seine Uhr: 20.25 Uhr. Das würde bedeuten, daß Daley um 10 Uhr ermordet wurde. 10.30 Uhr? Ja, das würde ungefähr hinkommen, wenn Morses Überlegungen richtig waren. Aber vielleicht waren sie gar nicht richtig? Er war sich so verdammt sicher gewesen, daß der Fall sich einem langsamen, wenn auch düsteren Abschluß näherte: keine Morde mehr, keine Todesfälle mehr. Hm! Genau das hatte er doch zu Lewis gesagt, oder? Einfach warten! — Das war es, was er gesagt hatte. Alles wird sich aufklären, wenn wir nur bereit sind zu warten. Aber an dem Tag hatte er gewartet, vor der Fahrt nach Wales, ohne die leiseste Vorahnung einer drohenden Tragödie.
Und er hatte sich geirrt.
Es gab
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