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Finstere Gründe

Finstere Gründe

Titel: Finstere Gründe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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durchgelesen und finde, ich höre mich fast normal an. Beinahe so, als würde ich hell auflachen, wenn irgendein Quacksalber mir vorschlüge, ich sollte doch mal mit jemandem sprechen. Aber in Wahrheit gibt’s nicht viel zu lachen über das Wrack, zu dem ich geworden bin — das ich vielleicht schon immer war. Die anderen haben verdammtes Glück gehabt. Lieber Gott, was für ein Glück! Sie haben ihre erotischen Phantasien und Vorstellungen aus widerlichen Magazinen und Pornofilmen und zwanglosem Sex. Aber ich! Ich studiere in der anspruchsvollen Presse die Artikel über Statistiken der Wirkung von Pornografie auf Sexualverbrechen. Das tun zivilisierte Sex-Besessene. Hat Pornografie überhaupt die Wirkung, die man ihr nachsagt? Ich bezweifle es. Doch ich wünschte, es wäre so. Ja! Dann würde fast jeder Tag für Tag irgendein schreckliches Sexualverbrechen begehen. Ich weiß — natürlich weiß ich es — , daß ein solcher Zustand nicht ganz so verdammt großartig für die tugendhaften Mädchen wäre, die ihre Jungfräulichkeit verteidigt haben. Aber wenigstens ich wäre normal. Ich wäre normal.
    Mach schon, Zeit! Beeil dich! Morgen werde ich sie sehen, und ich kann kaum zuschauen, wie die Stunden vorbeischleichen. Warum warte ich? Weil ich, obwohl ich meine Frau nie wirklich geliebt habe (und meine Kinder auch nicht besonders), fast alles in meinem Leben dafür geben würde, wenn ich ihr die ausweglose Erniedrigung ersparen könnte, von meiner Schande zu erfahren.
    (Später) Im Dozentenzimmer nahm ich den Guardian in die Hand und las von einem Japs, der ein Modell ermordet hatte und vierzehn Tage von ihrem Fleisch lebte. Sie behielten ihn nicht lange im Gefängnis, weil er offenkundig verrückt war. Aber als sie ihn in ein Irrenhaus einwiesen, schlug er solchen Krach, daß sie ihn dort auch nicht lange behielten. Warum? Weil die Sachverständigen zu der Überzeugung kamen, daß er normal sei. Nachdem sie ihn entlassen hatten, sagte er zu einem Presseberichterstatter: «Mein Aufenthalt in der geschlossenen Abteilung war die Hölle. Alle anderen dort waren echt bekloppt, aber die Ärzte erkannten, daß ich nicht wie die übrigen war. Sie sahen, daß ich normal war. Darum ließen sich mich gehen.» Ich war nicht so sehr bestürzt über das, was dieser Irre sagte. Was mich wirklich erschütterte, war, was der Reporter sagte. Er sagte, das Bedrückendste an diesem sonderbaren und einsamen Kannibalen sei die Tatsache, daß er sich wirklich für normal hielt! Verstehen Sie nicht, was ich meine?

Kapitel neun

    Und ich frage mich, wie sie zusammenkommen konnten

    (T. S. Eliot, La Figlia Che Piange)

    Er ging vom Speisesaal zur Bar. Das Dinner war eine einsame Angelegenheit gewesen, aber Morse machte sich nie große Gedanken, wenn er gelegentlich allein war, und er hatte nie verstanden, warum einige Leute einen Unterschied zwischen Einsamkeit und Alleinsein machten. Jedenfalls hatte es ihm geschmeckt. Es hatte Wildbret gegeben! Jetzt bestellte er eine Halbe vom besten Bitter und setzte sich mit dem Rücken zum Meer, die letzte Ausgabe der Times vor sich. Er schaute auf seine Armbanduhr, notierte sich die Zeit (20.21) auf dem kleinen Freiraum neben dem Kreuzworträtsel und begann.
    Um 20.35 Uhr, als er sich noch mit den beiden letzten Losungsworten abmühte, hörte er ihre Stimme:
    «Noch nicht fertig?»
    Morse fühlte sich plötzlich froh.
    «Darf ich mich zu Ihnen setzen?» Sie setzte sich rechts von ihm auf die gepolsterte Bank in der Fensternische. «Ich habe mir Kaffee bestellt. Wollen Sie auch welchen?»
    «Äh, nein. Kaffee hat in meinem Leben nie eine besonders große Rolle gespielt.»
    «Wasser auch nicht, wie die Dinge aussehen.»
    Morse wandte sich zu ihr und sah, daß sie lächelte. «Wasser ist ganz in Ordnung», räumte er ein. «Wenn man Maß hält.»
    «Nicht von Ihnen!»
    «Nein, Mark Twain.»
    Ein junger Kellner im Frack hatte den Kaffee gebracht, und sie schenkte sich eine fast volle Tasse ein und fügte dann ein wenig sehr dicke Sahne hinzu. Morse schaute hinunter auf ihre schlanken Finger, die in langsamer, beinahe sinnlicher Bewegung den Löffel kreisen ließen.
    «Sie haben die Zeitung bekommen?»
    Morse nickte. «Ja. Danke.»
    «Ich sage Ihnen etwas — ich werde Sie nicht einmal fragen, warum Sie die Zeitung unbedingt haben wollten.»
    «Warum nicht?»
    «Nun, einmal, weil Sie es mir in Ihrem Brief gesagt haben.»
    «Und zum anderen?»
    Sie zögerte und sah ihn an. «Warum bieten Sie mir nicht

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