Finstere Gründe
Annahme war die sich durch das ganze Gedicht hinziehende Betonung des «Findet mich»-Motivs; es erinnerte mich an die Helden Homers in der Ilias, bei denen der Tod in der Schlacht ein erwartetes und ehrenhaftes Ende war und es nichts Schrecklicheres gab, als unerkannt, unbegraben, ungefunden in einem unbekannten und fernen Land zu sterben. Ist das Gedicht dann mehr als alles andere der verzweifelte Schrei nach einer christlichen Beerdigung der Leiche? Das wäre sehr verständlich. Wir haben in jüngster Zeit so viele tragische Beispiele gesehen (im Nahen Osten etwa), wo die einfache Rückgabe eines Toten den Weg für irgendeine Friedensinitiative geebnet hat.
Aber ich glaube nicht mehr, daß das der Fall ist. Ich bin jetzt fest überzeugt, daß die Verse von einer Person ins Polizeipräsidium geschickt worden sind, für die die Zeit — ein Jahr jetzt — zwischen der Ermordung von Karin Eriksson und der Gegenwart zu einer unerträglichen Hölle geworden ist. Einer Person, die kurz vor dem Zusammenbruch steht. Einer Person, die möchte, daß das Verbrechen endlich aufgeklärt wird, und die jetzt bereit ist, dafür zu büßen. Kurz gesagt, der Mörder!
Kann ich es wagen, noch weiter zu gehen? Detective Chief Inspector Johnson hat mich über zwei weitere (bisher unveröffentlichte) Fakten informiert. Erstens, der Briefschreiber war fähig, den nicht so einfachen oder eindeutigen Namen «Eriksson» richtig zu schreiben. Und zweitens, der Schreiber wußte den Nachnamen vom Vorgänger unseres Chief Constable, doch nicht den des jetzigen. Nach dem alten Spruch «das macht den Kohl auch nicht mehr fett» nehme ich einmal an, daß der Mörder männlich ist, zwischen dreißig und fünfunddreißig, einen akademischen Grad in Englischer Literatur besitzt, bis vor etwa sechs bis neun Monaten in Oxfordshire lebte, während des letzten Monats den Ort seines Verbrechens wieder aufgesucht hat, sagen wir während eines Aufenthalts in einer der anspruchsvolleren Pensionen in Woodstock, Oxon.
Damit schließe ich den Beweisvortrag, M’Lord!
«Hey!» sagte sie. «Darf ich mich zu Ihnen setzen?»
«Ja, gerne», sagte Morse und arrangierte das letzte Stückchen seines Spiegeleis vorsichtig auf dem letzten Stück seines gebratenen Brots.
«Schon mal etwas von Cholesterin gehört?» Ihre Stimme klang sehr gebildet.
Morse schluckte den letzten Mundvoll herunter und musterte die schlanke, teuer gekleidete Frau, die ihm jetzt gegenüber saß und schwarzen Kaffee und ein Croissant bestellte, sonst nichts.
«Man sagt, daß wir alle an irgend etwas sterben müssen.»
Er bemühte sich, es einigermaßen heiter klingen zu lassen.
«Absurde Einstellung!» Ihre mit einem blaßroten Lippenstift geschickt nachgezogenen Lippen sahen streng aus, doch die grauen Augen in dem zarten, ovalen Gesicht schienen ihn fast zu verspotten.
«Vermutlich ist es das», sagte er.
«Sie haben ohnehin Übergewicht, nicht wahr?»
«Vermutlich hab ich das», wiederholte er lahm.
«Mitte fünfzig werden Sie zu hohen Blutdruck haben — oder sind Sie jetzt schon soweit? Dann werden Sie Anfang sechzig wahrscheinlich einen Schlaganfall haben und an einem Herzanfall sterben, bevor Sie siebzig sind.» Sie hatte ihre Tasse schon geleert und winkte der Kellnerin mit anmaßend gehobener, gepflegter Hand. «Was tun Sie beruflich?»
Morse seufzte und betrachtete nachdenklich das letzte Stück Toast in dem Ständer. «Ich bin Polizist, ich komme aus Oxford, und ich mache hier Urlaub bis etwa zehn Uhr heute vormittag. Ich bin ledig, und vielleicht bin ich kein besonders guter Fang, aber wenn ich gewußt hätte, daß ich...»
«...ein so hübsches Mädchen wie mich kennenlernen würde! Sicher können Sie etwas origineller sein?» Ihre Augen verspotteten ihn wieder.
Morse nahm das Stück Toast und begann, es mit Butter zu bestreichen. «Nein, kann ich nicht. Viel origineller kann ich nicht sein.»
«Vielleicht unterschätzen Sie sich.»
«Was ist mit Ihnen? Was tun Sie?»
«Warum erzählen Sie das nicht mir ? Sie sind doch Polizist, sagen Sie?»
Etwa eine halbe Minute lang sah Morse sie an, den Kopf leicht zur rechten Seite gewandt. Dann fällte er sein Urteil. «Sie sind eine Kosmetikerin, Ende zwanzig, und Sie haben eine vornehme Schule in Cheltenham besucht. Sie sind verheiratet, lassen aber manchmal den Ehering weg — wie jetzt. Sie haben Haustiere gern, neigen aber zu der Ansicht, daß Kinder ein etwas übertriebener Zeitvertreib sind. Und wenn Sie mich zu
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