Finstere Gründe
Zeit sowieso um nichts!»
Daley ging mit verkniffenem Gesicht zur Tür. «Hör auf mit dem Gejammere, alte Schlampe!»
Seine Frau hatte eine große Küchenschere aus einer Schublade genommen. «Sprich nie wieder so zu mir, George Daley!» Ihre Stimme zitterte vor Wut.
Wenige Minuten nachdem die Haustür hinter ihm zugeschlagen war, ging sie hinauf ins Schlafzimmer und nahm die fünf Fotos aus ihrer Unterwäsche-Schublade. Es waren alles Fotos von Karin Eriksson, nackt oder halbnackt in lüstern provozierenden Stellungen daliegend. Sie konnte nur raten, wie oft ihr Sohn diese und ähnliche Fotos angestarrt hatte, die er in einer Schachtel hinten in seinem Kleiderschrank versteckt hielt und die sie beim Frühjahrsputz im vergangenen April entdeckt hatte. Sie ging mit den fünf Fotos zum Klo, wo sie sich über die Schüssel beugte und Streifen auf Streifen von dem Gesicht, den Schultern, den Brüsten, den Hüften und den Beinen des schönen Mädchens abschnitt und die Zelluloidstücke gelegentlich mit Hilfe der Spülung in die Abwässer von Begbroke beförderte.
Kapitel dreißig
Für einen Mann ist sein Bett ein Ruheplatz, doch das Bett einer Frau ist häufig ihre Folterbank
(James Thurber,
Further Fables for Our Time)
Der Krankenwagen kam mit blinkendem Blaulicht und heulender Sirene um 21.15 Uhr vor der Notaufnahme des JohnRadcliffe2 Hospitals endlich zum Stillstand. Das graue Gesicht des Mannes, der auf einer Trage hastig durch die automatischen Türen gebracht wurde — die Stirn schweißfeucht, der Atem flach und mühsam —, hatte der Oberschwester mit dem roten Gürtel genug gesagt; sie rief sofort den diensthabenden Arzt an und half dann einer ihrer Kolleginnen, den Mann zu entkleiden und ein Krankenhaushemd um seinen übergewichtigen Körper zu ziehen. Eine Reihe hastig abgelesener Werte — EKG, Blutdruck, Röntgenbild der Brust — bestätigte bald das ohnehin ziemlich Offensichtliche: eine schwere Koronarthrombose, die beinahe sofort tödlich verlaufen wäre.
Zwei Krankenpfleger schoben die Trage rasch durch die Korridore zur Intensivstation für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, wo sie den schweren Mann auf ein Bett hoben. Fünf Leitungen wurden mit der Brust des Mannes verbunden und dann an Monitore angeschlossen, die auf dem Bildschirm neben dem Bett Herzrhythmus, Blutdruck und Pulsschlag aufzeichneten. Eine sehr hübsche, leicht rundliche junge Schwester sah zu, wie der Stationsarzt Morphium injizierte.
«Besteht noch Hoffnung?» fragte sie ein oder zwei Minuten später leise, als sie an dem Mitteltisch standen, wo die VDU-Monitore von jedem der sechs Betten in der kleinen Station aufgestellt waren.
«Man kann nie wissen, aber...»
«Ziemlich bekannter Mann, nicht wahr?»
«Hat mich als Student unterrichtet. Na ja, ich war in seinen Vorlesungen. Blut — das war eigentlich sein Fach, und als Venerologe war er eine weltweit anerkannte Kapazität. Die Polizei zieht ihn auch ständig hinzu; Autopsien und so was.»
Die Schwester schaute auf den Monitor: Die Werte schienen jetzt wesentlich stabiler, und sie stellte fest, daß sie ernsthaft wünschte, der alte Junge würde es überleben.
«Geben Sie ihm Frusemide, Schwester, soviel Sie wollen. All die Flüssigkeit in seiner Lunge gefällt mir nicht.»
Der Stationsarzt beobachtete den Monitor noch einige Minuten länger, dann ging er wieder ans Bett, wo die Schwester gerade einen Krug Wasser und ein Glas auf den Nachttisch gestellt hatte.
Nachdem der Arzt gegangen war, blieb Schwester Shelick neben dem Bett des kranken Mannes und blickte auf ihn hinunter mit der leidenschaftlichen Anteilnahme, die sie jedem ihrer Patienten entgegenbrachte. Obwohl sie noch unter dreißig war, gehörte sie eigentlich zu jener altmodischen Schule, die die Ansicht vertrat, daß, was immer auch die Vorteile einer hochentwickelten Technologie sein mochten, die Vorzüge einer einfachen menschlichen Pflege fast ebenso unentbehrlich waren. Sie legte die rechte Fland auf die nasse, kalte Stirn und wischte dann sein Gesicht sanft mit einem warmen, feuchten Waschlappen ab, wobei sie plötzlich bemerkte, daß seine Augen sich geöffnet hatten und auf sie gerichtet waren.
«Schwester?»
«Ich höre Sie —ja?»
«Würden Sie... würden Sie... sich für mich mit jemandem in Verbindung setzen?»
«Natürlich! Natürlich!» Sie beugte ihr rechtes Ohr hinunter zu den purpurroten Lippen, konnte aber nicht ganz verstehen, was er sagte.
«Bitte?»
«Morse!»
«Es tut mir
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