Finstere Gründe
leid. Sagen Sie es bitte noch einmal. Ich bin mir nicht ganz sicher...»
«Morse!»
«Ich habe noch immer... es tut mir leid... bitte.»
Aber die Augen des Mannes, der auf dem Bett lag, hatten sich wieder geschlossen, und es kam keine Antwort auf ihre sanft wiederholten Fragen.
Es war 23.15 Uhr.
Die schöne junge Frau des Oberförsters lag zu dieser Zeit auch im Bett. Auch sie lag auf dem Rücken, und sie lag noch immer auf dem Rücken, wachsam und wartend, bis sie endlich, gegen 23.35 Uhr, hörte, wie die Haustür geöffnet, dann zugeschlossen, dann verriegelt wurde.
Trotz vier Halber und zwei Whisky im White Hart wußte David Michaels, daß er sehr nüchtern war — viel zu nüchtern — denn irgend etwas stimmte ganz und gar nicht, wenn ein Mann nicht betrunken werden konnte, das wußte er. Nachdem er sich die Zähne geputzt hatte, ging er ins Schlafzimmer, legte seine Kleider rasch ab und schlüpfte unter das leichte Federbett. Sie schlief immer nackt, und nach ihrer Heirat war er ihrem Beispiel gefolgt und stellte oft fest, daß ihn nicht so sehr die Tatsache oder der Anblick ihrer Nacktheit erotisch erregte, sondern der bloße Gedanke daran. Und als er sich jetzt in dem verdunkelten Raum neben sie legte, wußte er, daß sie plötzlich und wunderbar wieder notwendig für ihn war. Er drehte sich zu ihr, und mit der rechten Hand griff er sanft über sie und streichelte ihre Brust. Aber sie packte mit ihrer rechten Hand sein Handgelenk und schob es mit erstaunlicher Kraft von sich.
«Nein. Nicht heute nacht.»
«Ist etwas nicht in Ordnung?»
«Ich will dich heute nacht einfach nicht — verstehst du das nicht?»
«Ich denke, ich verstehe ganz gut.» Michaels’ Stimme war schwerfällig, und er drehte sich auf den Rücken.
«Warum mußtest du es ihnen sagen?» fragte sie heftig.
«Weil ich die verdammte Gegend besser kenne als irgendwer sonst, darum!»
«Aber ist dir nicht klar...»
«Ich mußte ihnen irgend etwas erzählen. Verstehst du das nicht? Ich wußte es nicht, oder?»
Sie setzte sich im Bett auf, die rechte Hand auf dem Kissen neben seinem Kopf. «Aber sie werden denken, daß du es getan hättest, David.»
«Sei nicht dumm. Ich würde ihnen keine Auskünfte geben, wenn ich es gewesen wäre. Verstehst du das nicht? Ich bin der allerletzte, den sie verdächtigen werden. Aber wenn ich nicht geholfen hätte...»
Sie sagte nichts mehr, und er fragte sich eine Weile, ob es sinnvoll wäre, hinunterzugehen und ihnen zwei Tassen siedendheißen Kaffee zu machen und dann vielleicht die Nachttischlampe einzuschalten und seine wunderschöne junge Frau zu betrachten. Aber es war nicht nötig. Offensichtlich hatte Cathy Michaels die Logik seiner Worte akzeptiert und war jetzt entspannter, denn sie legte sich wieder hin und wandte sich zu ihm, und bald spürte er die seidenweiche Liebkosung ihres inneren Oberschenkels an seinem Körper.
Kapitel einunddreißig
Der Hintergrund enthüllt das wahre Wesen eines Menschen oder eines Dinges. Wenn ich den Hintergrund nicht kenne, mache ich den Menschen transparent, das Ding transparent
(Juan Jiménez)
Es war, als versuche man, die Antwort auf eine knifflige Kreuzworträtsel-Definition zu finden, fand Morse, als er um 23 Uhr in derselben Nacht in seinem Wohnzimmer in Nord-Oxford saß und die bisher genossenen Getränke mit einem Glenfiddich abrundete und noch einmal die Fotos betrachtete, die Margaret Daley ihm gegeben hatte. Je näher er der Definition kam — je näher er den Fotos kam —, um so weniger sah er wirklich. Man mußte zurücktreten, die Dinge perspektivisch sehen, das Problem synoptisch betrachten.
Nachdem er sich die Fotos wieder angesehen hatte, war es der Mann, der auf zweien von ihnen auftauchte, der sein Interesse mit Beschlag belegte: klein bis mittelgroß, etwa Ende zwanzig, mit ziemlich langem hellem Haar, in einem weißen T-Shirt und verwaschenen Jeans, sonnengebräunt und mit der Andeutung eines Eintagebarts um das Kinn. Aber die Einzelheiten waren zu undeutlich und zu unscharf und vermittelten kein deutliches Bild, als hätte der Fotograf — oder sehr wahrscheinlich die Fotografin — nicht die erforderliche Erfahrung, um mit den Problemen des hellen Sonnenlichts fertig zu werden, das so offensichtlich über dem Garten lag, in dem die Aufnahmen gemacht worden waren. Aber obwohl Morse wenig (nun — nichts) von Fotografie verstand, begann er allmählich den Verdacht zu hegen, daß vielleicht etwas mehr Fähigkeit in der Anordnung
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