Finstere Gründe
manchmal weniger Gewicht in Morses Vorstellungen als Gefühle und Eingebungen, und so entschied er, daß er vielleicht doch weitermachen würde mit der Wache.
Er fuhr vom Parkplatz des Präsidiums hinunter und stellte das Radio ein, aber er hatte es gerade vermißt — verdammt! — und hörte nur noch die ausklingende Kennmelodie der Archers, während er in Richtung Oxford fuhr und sich fragte, was sonst noch er an diesem Tag verpaßt haben mochte.
Am Banbury Road-Kreisverkehr bog er nach rechts ab, fuhr hinunter nach Wolvercote und kehrte im Trout ein, wo er über eine Stunde auf der gepflasterten Terrasse zwischen den Sandsteinmauern des Gasthofs und dem niedrigen Geländer saß und über den Fluß schaute; er trank und dachte nach — dachte nach über die merkwürdig quälenden neuen Fakten, die er über den Tod des schwedischen Mädchens erfahren hatte.
Lewis rief um 22.15 Uhr an. Er sei zurück. Seine Reise sei einigermaßen erfolgreich gewesen, glaubte er. Wollte Morse ihn sofort sprechen?
«Nur wenn Sie von ganz außergewöhnlichen Enthüllungen zu berichten haben.»
«Ganz so weit würde ich nicht gehen.»
«Dann warten Sie damit bis morgen früh», entschied Morse.
Nicht daß irgendeine Entscheidung, die Morse in jener Nacht traf, besonders relevant war, da die tägliche Routine von praktisch jeder Abteilung im Polizeipräsidium für die nächsten drei oder vier Tage unterbrochen war. Es hatte wieder Ärger in Broadmoor Lea gegeben, wo die Hälfte der Bewohner sich bitter über zuwenig Polizeischutz beklagte und die andere Hälfte heftig gegen Überreaktionen der Polizei protestierte. Städtische Arbeiter wurden eingeschüchtert; nachahmende Kriminalität wurde aus dem benachbarten Buckinghamshire und aus Berkshire gemeldet; eine weitere Besprechung auf höchster Ebene war für Donnerstag und Freitag angesetzt worden; der Innenminister hatte sich eingeschaltet und einen umfassenden Bericht verlangt, und die Ermittlungen in einem möglichen Verbrechen, das vielleicht vor einem Jahr in Blenheim Park oder im Wytham-Wald oder wo zum Teufel auch immer (wie der ACC es am folgenden Morgen ausdrückte) begangen worden war, hatten keine Priorität in einer Gemeinschaft, in der die Durchsetzung von Recht und Ordnung jetzt wirklich in Gefahr war.
Kapitel zweiundvierzig
In geringem Grade machten diese griechischen Philosophen Gebrauch von ihrem Beobachtungsvermögen, doch nur vereinzelt, bis zur Zeit des Aristoteles. Ihr Vermächtnis liegt woanders: in ihrer erstaunlichen Fähigkeit, deduktiv und induktiv zu denken
(W. K. C. Guthrie,
The Greek Philosophers)
Lewis’ Bericht aus Schweden war sehr viel interessanter, sehr viel anregender gewesen, als Morse hätte erwarten können. Es kam wieder Fleisch auf die Knochen, sozusagen, wenn auch nicht auf jene besonderen Knochen, die in Pasticks entdeckt worden waren. Auch die Gedanken von anderen schienen sich von dem Ort, wo man am besten nach dem Schwedenmädchen graben sollte, abzuwenden und auf den Mörder, der das Loch überhaupt gegraben hatte (sicherlich war es doch ein ?), zu richten, auf seine Interessen, seine besonderen Merkmale, sein psychologisches Phantombild gewissermaßen. Besonders die im letzten Brief an die Times vom Freitag, dem 31. Juli, zum Ausdruck gebrachten Gedanken interessierten Morse nicht unbeträchtlich.
Von Reverend David M. Sturdy
Sir, wie so viele, die Ihre Zeitung regelmäßig lesen, war ich tief beeindruckt von dem Einfallsreichtum in den Zuschriften zu den inzwischen allbekannten Schwedenmädchen-Versen. Wir alle hatten gehofft, daß solche Mühe schließlich ihre Belohnung finden würde-ganz besonders die absolut brillante Analyse (13. Juli), die zu der führte. Darum lasen wir mit großer Enttäuschung von dem Befund des Polizei-Pathologen in Oxford (Dienstag, d. 21. Juli).
Ich selbst kann nicht hoffen, die deduktive Logik früherer Briefschreiber zu erreichen. Aber würde es sich nicht lohnen, sich ein Beispiel an Aristoteles zu nehmen und sich jetzt nach einer induktiven Hypothese umzusehen? Anstatt zu fragen, was der Autor der Verse als Hinweise verstanden wissen wollte, sollten wir vielleicht eine ganz andere Frage stellen, nämlich: Was sagen uns die Verse über die Person, die sie schrieb, besonders wenn diese Person versuchte, fast ebensoviel zu verbergen, als zu enthüllen sie bereit war.
Zwei Dinge fallen dem Leser vielleicht sofort auf. Erstens die veralteten Ausdrücke, die in den
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