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Finstere Gründe

Finstere Gründe

Titel: Finstere Gründe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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daß die junge Dame wohlgeformt, sehr fotogen und wahrscheinlich erfahren genug sei, um zu wissen, daß eine Sitzung mit einem Fotografen bei einer leeren Tasche Wunder wirken könne.
    «Sie arbeiten sonntags?»
    «Sonntag ist ein guter Tag für die Sünde, Inspector. Und wir hatten einen Kunden, der bereit war und wartete — falls sie kommen sollte.»
    «Und sie ist gekommen?»
    «Sie rief von einer Telefonzelle an der Wentworth Road in Nord-Oxford an, und Selina fuhr in ihrem Mini dorthin, um sie abzuholen...»
    Morse konnte sich nicht länger beherrschen. «Verdammte Scheiße! Ist Ihnen klar, wieviel Zeit und Mühe Sie uns hätten ersparen können? Kein Wunder, daß wir so viele nicht aufgeklärte Verbrechen haben, wenn...»
    «Über welches Verbrechen sprechen wir eigentlich, Inspector?»
    Morse ließ das Thema fallen und bat sie fortzufahren.
    Aber eigentlich war es das auch schon gewesen — es gab nicht mehr viel zu sagen. Selina hatte das Mädchen zur Abingdon Road gebracht: attraktiv, braungebrannt, blond, kurvenreich, spärlich bekleidet; mit einem Rucksack, ja, einem roten Rucksack, und sehr wenig sonst. Der Kunde aus der Seckham Villa hatte nach solchem und ähnlichem Ausschau gehalten. Ein Anruf. Eine telefonische Vereinbarung: 100 Pfund für eine Sitzung von einer Stunde — 80 Pfund für das Mädchen, 20 Pfund für die Agentur.
    «Wie kam sie zur Park Town?»
    «Keine Ahnung. Sie sagte, sie würde ins Zentrum laufen — das waren nur fünf Minuten — und eine Kleinigkeit essen. Schien keine Hilfe zu wollen. Selbständige Person.»
    Das war’s also. Jedenfalls für den Augenblick.
    Bevor Morse ging, bat er, einen Blick in das laufende Modell-Jahrbuch werfen zu dürfen, eine dicke, in Schwarz gebundene Broschüre, aus der, ziemlich sicher, die Auswahl von Fotokopien in der Seckham Villa zusammengestellt worden war. Die Fotos waren alle in Schwarzweiß, aber in dieser Ausgabe fand Morse weder Claire noch Louisa unter den eleganten Damen in ihren halbaufgeknöpften Blusen und den an Strumpfhaltern befestigten Strümpfen. Es war auch keine Karin unter den Ks: nur Katie und Kelly und Kimberly und Kylie...
    «Wenn ich das mitnehmen dürfte?»
    «Natürlich.»
    «Und ich fürchte, ich muß Sie noch einmal belästigen — mit meinem Sergeant. Wahrscheinlich morgen. In Ordnung?»
    Als Morse im Begriff war zu gehen, läutete das Telefon, und Selina machte Anstalten, den Anruf entgegenzunehmen. Aber Michelle nahm den Hörer auf, legte die Hand über die Sprechmuschel und sagte ihrem Besucher auf Wiedersehen. So war es die schweigsame Selina, die den Chief Inspector an die Tür begleitete und, ein wenig zu Morses Überraschung, mit ihm zum Jaguar ging.
    «Es gibt etwas, was Sie wissen sollten», sagte sie. «Es ist nicht wichtig, ich weiß, aber...»
    Im Gegensatz zu den Anklängen an Cockney in der Sprache ihrer Partnerin waren ihre Vokale merkwürdig gerollt: die Vokale von Oxfordshire und Gloucestershire.
    «Ich habe sie mitgenommen, verstehen Sie. Sie war ein entzückendes Mädchen.»
    «Ja?»
    «Verstehen Sie nicht? Ich wollte sie, Inspector. Ich fragte sie, ob sie zu mir kommen würde, danach. Ich habe eine Menge Geld, und sie hatte... sie hatte nichts.» Eine Träne, die bald langsam über die magere Wange rollen würde, hatte sich in Selinas rechtem Auge gebildet.
    Morse sagte nichts und vertraute darauf, daß sein Instinkt ihn ausnahmsweise das Richtige tun ließ.
    «Sie hat gesagt», fuhr die Frau schlicht fort. «Das ist es, was ich Ihnen eigentlich sagen sollte: sie hätte... einige Dinge nicht getan. Sie wollte es einfach nicht. Sie war nicht käuflich — nicht wie die meisten von ihnen.»
    Morse legte ihr die Hand auf die knochige Schulter und lächelte sie verständnisvoll an und hoffte, daß er aufgenommen hatte, was immer sie ihm hatte mitteilen wollen. Er dachte, daß er es getan hatte.
    Als Morse fortfuhr, sah er die überdimensionale Michelle noch immer eifrig beschäftigt mit den Wünschen eines anderen Kunden. Sie war mit Sicherheit der dominierende Partner im Geschäft, aber er fragte sich, wer der dominierende Partner im Bett sein mochte.

    Er kam erst Viertel vor sieben ins Präsidium in Kidlington zurück, wo er erfuhr, daß man Anweisungen brauchte — möglichst bald! — wegen der Männer im Wytham-Wald. Sollte der Polizeitrupp dort aufgelöst werden? Im großen und ganzen hielt Morse es für Zeitverschwendung, dort weiter eine Wache aufrechtzuerhalten. Aber Logik hatte

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