Finstere Gründe
die Hände und riß an den Wurzeln seines dicken Haars. Es war die Häufung all dieser verdammten Dinge, die so schrecklich war. Während der letzten Tage hatte er daran gedacht, allem ein Ende zu machen. Aber, merkwürdig vielleicht, es war keine Angst, die den Tod selbst betraf, was ihn abgehalten hatte, sondern eher seine eigene Unfähigkeit, mit den praktischen Aspekten eines Selbstmords fertig zu werden. Er gehörte zu jenen Leuten, die mit allen Maschinen, allen Apparaten ständig auf Kriegsfuß stehen, und sein ganzes Leben hatte er es nicht geschafft, sich mit Drähten und Schaltern und Sicherungen und Schrauben zu arrangieren. Da gab es zum Beispiel diese Sache mit der Garage — mit geschlossenen Türen und Auspuffgasen, doch Hardinge hatte den Verdacht, daß er das völlig vermasseln würde. Aber er mußte etwas tun; das Leben wurde allmählich unerträglich für ihn. Das Scheitern seiner Ehe, die Tatsache, daß die einzige Frau, die er wirklich liebte, ihn zurückgewiesen hatte, die Sinnlosigkeit seiner akademischen Grade, seine jämmerliche Pornografie-Süchtigkeit, der Tod seiner Tochter, und jetzt, vor nur wenigen Minuten, die Erinnerung an das vielleicht Schrecklichste von allem...
Die zweite Vorstellung vom Mikado sollte, wie Morse sich erinnerte, ebenso wie die erste um 19.30 Uhr beginnen. Eigentlich noch reichlich Zeit, sich fertig zu machen und hinzufahren. Aber auch an diesem Abend entschied er sich dagegen.
Die erste Aufführung war in Ordnung gewesen, ja, aber alles ein bißchen nervös, ein bißchen mit einem flauen Gefühl im Magen, wie die anderen Mädchen sagten. Doch am zweiten Abend würden sie wirklich gut in Form sein. David hatte gesagt, sie hätte es fein gemacht am ersten Abend — fein ! Aber diesmal würde sie besser sein — sie würde es ihm zeigen!
Sie hatten noch fünf Minuten, und sie schaute wieder hinter dem Vorhang hervor. David hatte für alle drei Vorstellungen eine Karte für die hintere Reihe gehabt, und sie sah jetzt einen leeren Platz dort, direkt neben dem schmalen Gang. Aber sie sah keinen David. Wahrscheinlich, dachte sie, stand er draußen vor der Halle und unterhielt sich mit irgendwem, bevor die Aufführung begann. Aber Platz K 5 sollte unbesetzt bleiben, bis während der letzten vierzig Minuten eine der Programm-Verkäuferinnen beschloß, ihren schmerzenden Füßen eine willkommene Ruhepause zu gönnen.
Kapitel einundfünfzig
Wer unten ist, braucht keinen Fall zu fürchten, wer bedrückt ist, keinen Hochmut
(John Bunyan, The Pilgrim’s Progress)
Lewis war sich nicht so sicher, ob Morse etwas Derartiges erwartet hatte. Gewiß aber war, daß der Chief Inspector kaum überrascht war, als am nächsten Morgen der Anruf von Dr. Hardinge durchgestellt wurde. Könnte er bitte Morse sprechen? Nein, es sei nicht sehr dringend — das heißt, doch, es war eigentlich sehr dringend, jedenfalls für ihn.
Morse war offensichtlich völlig einverstanden, daß Lewis ein oder zwei auf der Hand liegende Fragen dazwischenwarf, während er aufmerksam zuhörte, wenn auch mit einer Andeutung von Spott im Ausdruck. Vielleicht — so sah Lewis die Dinge —, waren es die einleitenden Worte, die den Chief ein wenig sauer hatten werden lassen.
Morse: Es hat mir sehr leid getan, vom Unfall Ihrer Tochter zu erfahren, Dr. Hardinge. Es muß... eine schreckliche...
Hardinge: Woher wollen Sie das wissen? Sie haben keine Kinder.
Morse: Woher wissen Sie das?
Hardinge: Ich dachte, wir hätten eine gemeinsame Freundin, Inspector.
Nein, es war kein sehr glücklicher Anfang gewesen, obwohl das Gespräch wesentlich friedlicher geendet hatte. Hardinge hatte sich bereitwillig einverstanden erklärt, daß seine Aussage auf Band aufgenommen wurde, und die außerordentlich befähigte WPC Wright sollte später eine sehr knappe und saubere Niederschrift anfertigen, angenehm frei von den unzähligen Tipp-Ex-Änderungen, die gewöhnlich Lewis’ Kampf mit der Schreibmaschine charakterisierten.
«Am Sonntag, dem 7.Juli 1991, traf ich mit vier anderen Männern in der Seckham Villa, Park Town, Oxford, zusammen. Das gemeinsame Interesse, das uns zusammengebracht hatte, war mir eher peinlich, als daß ich mich seiner schämte. Anwesend waren Alasdair McBryde, George Daley, David Michaels, James Myton und ich selbst. McBryde teilte uns mit, daß wir wahrscheinlich einen interessanten Nachmittag vor uns haben würden, da eine junge schwedische Studentin kommen und vor einer Kamera Modell sitzen
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