Finstere Versuchung
genug war, sie gefangen zu halten, bis sie es ihm verriet, stieß sie einen leisen Fluch aus.
»Weil du mich … geringer machst.«
»Geringer?«
Sie drehte den Kopf weg, als sei sie nicht willens, Levets verwirrten Blick zu erwidern.
»Während du verbannt bist, bist du bei meinem Volk vergessen. Aber wenn dein Name wieder an der Wand prangt, wird man sich daran erinnern, dass du mein Sohn bist. Dann werde ich verspottet werden, weil ich eine …«
»Eine was?«, fragte Levet nach, als seine Neugierde die Oberhand über seinen Selbsterhaltungstrieb gewann.
Das kam häufig vor.
»Eine Missgeburt zur Welt gebracht habe«, antwortete sie schaudernd.
Er zuckte zusammen und ein Gefühl bemächtigte sich seiner, als sei er geschlagen worden.
Aber warum?
Seine Mutter hatte ihn seine gesamte Kindheit über auf seine zahlreichen Mängel hingewiesen. Bis er selbst fast davon überzeugt gewesen war, deformiert zu sein.
Aber jetzt nicht mehr.
»Ich mache dich nicht geringer, meine liebe Rabenmutter . Du wurdest ohne Seele geboren«, berichtigte er sie. Seine Stimme war klar und vollkommen fest. »Und ich danke den Göttern, dass ich mich von dir unterscheide. Mein Leben ist von Bedeutung. Es bedeutet wirklich etwas. Du wirst niemals imstande sein, das Gleiche von dir zu behaupten.«
Berthe blinzelte, fast so, als hätten seine Worte einen Nerv getroffen. Aber als er sich gerade vorbeugte, um den kurzen Sieg zu genießen, verzerrten sich ihre hässlichen Züge zu einem Stirnrunzeln.
»Lass mich frei«, kommandierte sie.
»Und du wirst mir das geben, was ich verlangt habe?«
Ein leises Knurren versetzte die Luft in Schwingungen. »Oui« , stieß sie schließlich hervor.
»Großes Indianerehrenwort?«
»Levet.«
Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Er hatte keine andere Wahl, er musste ihr glauben. Noch eine weitere Sekunde, dann wäre er zusammengebrochen. Da war es weitaus besser, sie glauben zu lassen, er schenke ihr aus reiner Herzensgüte die Freiheit.
»Bien. Gehen wir«, sagte er und ließ die Hände sinken, als die Zauberfäden sich auftrennten und dann mit einem hörbaren Zischen auflösten. Kaum war es ihm gelungen, erschöpft Luft zu holen, als seine Mutter auch schon von der Mauer wegpreschte und seinen Flügel mit ihren Klauen packte. »Mon Dieu« , quiekte er, als sie sich kraftvoll mit den Beinen abstieß, um mit Levet krachend durch die Decke zu schießen. »Langsamer!«
»Tais-toi« , knurrte Berthe und breitete die Flügel aus, um in beeindruckendem Tempo über Paris hinwegzugleiten.
Levet, der unbeholfen von ihrer Hand herabbaumelte, stieß einen resignierten Seufzer aus.
Wann würde er endlich wie ein Held behandelt werden?
Dies alles war äußerst ärgerlich.
Innerhalb weniger Minuten landeten sie an einem abgeschiedenen Nebenfluss der Seine. Da gab es einen längst vergessenen Zugang zur Kanalisation, der durch einen machtvollen Illusionszauber getarnt war. Berthe stapfte hindurch, ohne sich dabei die Mühe zu machen, Levet auch nur einmal anzusehen.
Er streckte ihr die Zunge heraus und folgte ihr langsam durch den Tunnel.
Es machte ihm große Freude zu beobachten, wie seine Mutter sich den Kopf an der Decke stieß, als sie ihre große Gestalt durch den Eingang zwängte, der das Allerheiligste schützte. Er watschelte hinter ihr hinein.
Die Höhle war groß, aber leer, bis auf mehrere Fackeln, die einen sanften Lichtschein auf das graue Gestein und den Schreibtisch warfen, der dicht an der Tür stand.
»Doyenne.« Ein Gargyle, der mehrere Zentimeter kleiner war als Berthe und sehr viel schlanker gebaut, erhob sich von seinem Platz hinter dem Tisch und eilte auf sie zu.
Levet sprang aus dem Weg, als Emery sich verneigte, Levets Anwesenheit absichtlich ignorierend.
Ah … die Freuden der Verbannung.
Auch wenn es nicht unbedingt Levets innigster Wunsch war, dass der pedantische Bürokrat, der sich immer benahm, als stecke ein Stock in seinem derrière, Notiz von ihm nahm .
»Emery.« Berthe wartete, bis der Beschützer der Wand sich wieder aufgerichtet hatte. Ihre Miene drückte Ungeduld aus. »Ich habe eine offizielle Erklärung abzugeben.«
Der Gargyle blinzelte und flatterte plötzlich aufgeregt mit den Flügeln.
»Aber … die Ältesten …«
Berthe packte ihr Gegenüber am Horn und zog es zu sich heran, bis sich ihre Schnauzen beinahe berührten.
»Stellst du mein Recht infrage, dieses Nest zu regieren?«
»Non, Doyenne«, antwortete der Diener
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