Finsteres Verlangen
Zumindest sah er einem verblüffend ähnlich. Doch an solche Zufälle glaubte ich nicht.
Ich sah Bradley an. Er hielt das Foto geduldig hin, tiefer, als es für Zerbrowski und Merlioni nötig gewesen wäre. Vielleicht aus reiner Höflichkeit oder auch nicht. Er begegnete meinem Blick und verzog keine Miene. Guter Polizist.
»Was, wenn ich Ihnen sage, dass ich gerade einen von Heinricks Komplizen auf einem Foto betrachte und dass er zurzeit in der Stadt ist?«, sagte ich ins Handy.
Bradleys Gesicht blieb unverändert, das von Zerbrowski und Merlioni nicht. Sie blickten überrascht.
»Woher haben Sie das Foto?«, fragte O’Brien.
»Das ist eine lange Geschichte, aber er wird im Zusammenhang mit einem Mord hier in der Stadt gesucht.«
»Welcher ist es?«
»Ich glaube, es war der Einzige mit längerem Haar. Er trug es nicht als Pferdeschwanz wie hier, aber es war jedenfalls schulterlang.«
Ich hörte Papiere rascheln. »Da hab ich’s.« Mehr Rascheln, dann ein leiser Pfiff. »Roy Van Anders. Ein ganz übler Kerl, Blake.«
»Wie übel?«
»Komischerweise haben wir erst heute Akten zu Mr Van Anders erhalten. Tatortfotos, bei denen sich Ihnen der Magen umdreht.«
»Viel Blut und nicht viel von der Leiche übrig?«, fragte ich.
Ich merkte, wie Zerbrowski sich anspannte.
»Ja, woher wissen Sie das?«
»Ich glaube, ich bin gerade am Schauplatz eines Verbrechens, das Van Anders begangen hat.«
»Sie arbeiten an diesem Lykanthropenmord, richtig?«
»Ja.«
»In seiner Akte weist nichts darauf hin, dass er etwas anderes wäre als ein Mensch. Er ist nur ein kranker Scheißkerl, der gern Frauen vergewaltigt und ermordet.«
»Hat jemand mal nachgefragt, wie er die Leichen zerfetzt hat oder wo der Rest davon geblieben ist?«
»Ich habe mir noch nicht alles durchgelesen, aber: nein. Die meisten seiner Verbrechen hat er in Ländern begangen, wo man froh sein kann, wenn man überhaupt ein Foto bekommt. Kaum technisch entwickelt und sehr wenig Geld für komplizierte Mordermittlungen.«
»Wie kompliziert kann es denn sein, den Unterschied zwischen Werkzeug- und Zahnspuren zu erkennen?«
»Viele Serienmörder benutzen ihre Zähne, Blake.« Sie klang, als fühlte sie sich verpflichtet, die Ehre irgendwelcher weit entfernter Polizeikräfte zu verteidigen.
»Das weiß ich, O’Brien, aber, na, egal. Wichtig ist, dass er im Augenblick in der Stadt ist, und wir verfügen über die notwendige Technik und haben auch ein bisschen Geld, um Kerle wie ihn zur Strecke zu bringen.«
»Sie haben recht, Blake. Konzentrieren wir uns auf das Hier und Jetzt.«
»Haben wir genug in der Hand, um Heinrick und seinen Freund zu vernehmen?«
»Ich glaube, schon. Wir können nachweisen, dass Heinrick von den Hobbys seines Freundes wusste. Das ist Beihilfe vor der Tat, wenn nicht sogar mehr.«
»Ich komme vorbei, sobald ich hier weg kann.«
»Blake, das ist nicht Ihr Fall. Sie sind ein potenzielles Opfer. Ich denke, da können Sie kaum objektiv bleiben.«
»Tun Sie das nicht, O’Brien. Ich habe Ihnen gegenüber auch fair gespielt.«
»Das ist kein Spiel, Blake, das ist mein Job. Oder wollen Sie für alles den Ruhm einheimsen?«
»Der Ruhm ist mir völlig egal. Ich möchte nur dabei sein, wenn Sie Heinrick vernehmen.«
»Wenn Sie rechtzeitig hier sind, okay, aber die Party beginnt auch ohne Sie.«
»Na gut, O’Brien, Sie sind die ermittelnde Beamtin.«
»Schön, dass Sie sich daran erinnern.« Sie legte auf.
»Miststück!«
Zerbrowski und Merlioni blickten mich erwartungsvoll an, Bradley nicht. Er konnte ein undurchdringliches Gesicht machen, aber er war kein Schauspieler. Ich setzte sie ins Bild. Zerbrowski wurde sauer, nicht weil O’Brien mich ausschloss, sondern weil sie nicht einmal in Erwägung zog, mit dem RPIT Kontakt aufzunehmen.
»Sie hat sie weswegen festgenommen? Weil sie Ihnen gefolgt sind? Wir haben hier vier Morde, vielleicht fünf.« Er sah mich an. »Wollen Sie in einem Auto mit Sirene und Blaulicht mitgenommen werden, damit wir dort sind, ehe O’Brien unseren Fall ins Klo spült?«
Mir gefiel, dass er »unser Fall« sagte, und mir gefiel, dass er mich hinzubat. Dolph hätte es vermutlich nicht getan, nicht einmal, wenn er nicht auf mich wütend gewesen wäre.
Ich nickte. »Ich würde gern bei ihr reinrauschen und mit ihr die Zuständigkeiten diskutieren.«
Er grinste. »Geben Sie mir zehn Minuten, damit ich allen den Marschbefehl geben kann. Danach treffen wir uns unten. Wir borgen uns einen Streifenwagen.
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