Finsteres Verlangen
man sich sofort ausmalte, wie weich sie sich anfühlten. Sie waren groß und erinnerten mich an die Engel auf Renaissance-Gemälden. An dem goldenen Körper wirkten sie deplatziert.
Psyche spähte um den Rand eines Flügels herum, der ihren Oberkörper verdeckte. Aber ihre Schulter war zu sehen und ihre Seite bis hinunter zur Hüfte, alles andere blieb hinter Cupido verborgen. Stirnrunzelnd betrachtete ich das Bild. Ich kannte die Schulter, den Rippenbogen, die weiße Haut. Ich hätte erwartet, Belle Morte als Psyche zu sehen, doch sie war es nicht.
Ich sah auf die langen schwarzen Locken und in das Gesicht, das an der Kerze vorbeispähte: es war Jean-Claudes. Ich brauchte einen Augenblick, um wirklich sicher zu sein, denn seine Schönheit wirkte zarter. Dann erkannte ich, dass er geschminkt war – wie es bei Männern zu der Zeit eben üblich war. Die Schminke machte seine Züge weicher, den Mund kleiner. Nur die Augen waren unverändert: schwarze Wimpern und ein betörend tiefes Blau.
Das Gemälde war zu groß, als dass ich dicht vor dem Kamin stehen und alles aufnehmen konnte. Doch an Cupidos Augen fiel mir etwas auf, und ich musste näher herangehen, um zu erkennen, dass sie einen Spalt weit geöffnet waren, und da sah man das kalte blaue Feuer, das sie hatten, wenn Asher vom Hunger überwältigt wurde.
Jean-Claude berührte meine Wange, und ich fuhr erschrocken zusammen. Damian war diskret ein Stück abgerückt. Jean-Claude strich über die Tränenspuren auf meiner Wange. In seinen Augen las ich, dass ihm selbst zum Weinen war. Er durfte nur nicht vor Musette schwach erscheinen.
Wir drehten uns nach Asher um, doch der stand weit weg und hatte sich abgewandt, sodass sein Gesicht nicht zu sehen war, nur seine goldblonden Haare. Seine Schultern waren nach vorn gezogen, als hätte ihn jemand geschlagen.
Musette stellte sich an Jean-Claudes andere Seite. »Unsere Herrin dachte, da ihr wie in alten Zeiten wieder zusammen seid, würde euch diese kleine Erinnerung an vergangene Tage gefallen.«
Ich sah sie an Jean-Claudes Schulter vorbei unfreundlich an, und dabei streifte mein Blick die Kleine, die jetzt neben der Couch stand. Ich hatte nicht bemerkt, dass sie vom Boden aufgestanden war. Wenn mir jemand hätte das Licht ausblasen wollen, wäre das eine gute Gelegenheit gewesen, denn ein paar Minuten lang hatte ich nichts wahrgenommen außer dem Gemälde.
»Es ist unser Gastgeschenk. Für Asher haben wir jedoch etwas Persönlicheres mitgebracht.«
Angelito rückte neben sie wie ein finsterer Berg und hielt ein kleineres Gemälde in den Händen. Auf dem Boden sah ich eine Kordel und die Fetzen des Papiers liegen, in das es eingewickelt gewesen war. Es war halb so groß wie das andere, aber in demselben Stil gemalt, in warmen Farben und sehr realistisch, sehr tizianisch.
Das Licht darin kam von der Glut einer Esse. Ashers Körper schimmerte golden und rötlich. Auch hier war er nackt. Der Amboss verbarg seine Weichteile, aber die rechte Körperhälfte war deutlich zu sehen. Seine Haare waren zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden, sodass auch die rechte Gesichtshälfte zu sehen war. Seine Arme, die das Schwert auf dem Amboss schmiedeten, waren stark. Aber die rechte Körperhälfte vom Gesicht bis zum Oberschenkel war entstellt.
Nicht von den alten weißen Narben, wie ich sie kannte, sondern durch wundrote Striemen, als wäre er einem Ungeheuer in die Krallen geraten. Plötzlich überfiel mich eine fremde Erinnerung.
Asher am Boden der Folterkammer, von den Silberketten befreit, die Folterknechte blutig niedergemetzelt. Er streckte die Arme aus, und sein Gesicht … sein Gesicht …
Ich schwankte und sank mit Jean-Claude zusammen zu Boden, weil ich unmittelbar erlebte, was in ihm vorging.
Damian und Jason kamen zu uns. Asher blieb, wo er war. Ich konnte es ihm nicht im Mindesten verdenken.
8
A sher, komm und sieh dir dein Geschenk an«, rief Musette.
Damian kniete neben mir und hielt mich an den Schultern fest. Ich glaube, er fürchtete, ich könnte etwas Unüberlegtes tun. Zu Recht.
Asher klang angestrengt, aber klar. »Dieses Geschenk habe ich schon einmal gesehen. Ich kenne es gut.«
»Sollen wir zu Belle Morte zurückkehren und ihr berichten, dass du es nicht zu schätzen wusstest?«
»Du kannst Belle Morte ausrichten, dass ihr Geschenk genau das bewirkt hat, was es bewirken sollte.«
»Und das wäre?«
»Es hat mir vor Augen geführt, was ich war und was ich bin.«
Ich stand auf, obwohl Damian
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