Finsteres Verlangen
an die Wand geheftet.
Seltsamerweise war mir nicht mehr weich in den Knien und auch nicht mehr übel. Ich fühlte mich leicht und distanziert und stabiler als in den vergangenen Stunden. Ich ging auf den Toten zu. Zerbrowski ließ mich los, und ich stand sicher auf meinen Pumps auf dem weichen Teppich.
Erst als ich ganz dicht davor stand, begriff ich, was ich sah, und selbst dann musste ich jemanden fragen, der sich mit Werkzeugen besser auskannte als ich.
Der Täter schien eine Nagelpistole verwendet zu haben, eine in der Industrie gebräuchliche mit sehr langen Nägeln. Damit hatte er den Mann an die Wand genagelt. Seine Schultern hingen zwei Meter vierzig über dem Boden. Der Täter hatte also entweder eine Leiter benutzt oder war selbst an die zwei Meter zehn.
Die dunklen Flecke befanden sich an beiden Handflächen, den Handgelenken, an den Unterarmen über den Ellbogen, an den Schultern, unter dem Schlüsselbein, dicht unterhalb der Knie, über den Fußgelenken und an beiden Füßen. Die waren nicht mit einem Nagel durchstoßen worden, sondern nebeneinander befestigt. Der Täter hatte nicht die Kreuzigung nachgestellt. Was angesichts der Tatwerkzeuge bemerkenswert war, wie ich fand.
Der Kopf des Toten hing schlaff nach vorn. Der Hals war unverletzt. Dicht hinter einem Ohr hatte er eine blutige Stelle in den weißen Haaren. Wenn die Nägel so lang waren, wie ich annahm, und wenn dieses Blut von so einem Nagel kam, hätte er vorne am Gesicht herausstehen müssen. Doch das war nicht der Fall. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um das Gesicht zu betrachten.
Die weißen Haare und die Gesichtszüge sagten mir, dass der Mann älter war, als der übrige Körper vermuten ließ. Der war durchtrainiert, Joggen und Gewichte stemmen vermutlich. Aber er war über fünfzig Jahre alt. All die Anstrengung, um sich seine Gesundheit zu erhalten, und dann kommt ein Verrückter daher und nagelt einen an die Wand. Irgendwie tragisch.
Ich beugte mich zu weit vor und musste mich mit den Fingerspitzen an der Wand abstützen. Dabei berührte ich eine Stelle mit eingetrocknetem Blut, und erst in dem Moment wurde mir bewusst, dass ich meine Latexhandschuhe vergessen hatte. Mist.
Zerbrowski war sofort da und stützte mich am Ellbogen.
»Wie konnten Sie mich ohne Handschuhe hier reinlassen?«
»Ich habe nicht damit gerechnet, dass Sie Beweismaterial anfassen«, sagte er. Er angelte eine Flasche mit Desinfektionsmittel aus seiner Jackentasche. »Katie steckt mir immer eine ein.«
Ich ließ mir etwas von dem Zeug in die Hände gießen und verrieb es. Nicht dass ich wirklich fürchtete, ich könnte mir durch das bisschen Kontakt etwas einfangen. Ich tat es mehr aus Gewohnheit. Man nimmt nicht gern etwas von einem Leichenfundort mit nach Hause, wenn es sich vermeiden lässt.
Das Gel verdunstete auf meiner Haut, ließ an den Fingern ein feuchtes Gefühl zurück, obwohl ich wusste, dass das täuschte. Ich sah mich in dem Raum um und nahm die Einzelheiten in mich auf.
Die weißen Wände waren mit bunter Kreide beschmiert, mit Pentagrammen verschiedener Größe rechts und links von dem Toten. Pink, blau, rot, grün, ziemlich dekorativ. Jeder Idiot, der einen Ritualmord vortäuschen will, kann ein Pentagramm zeichnen. Doch da waren auch germanische Runen zwischen den bonbonbunten Pentagrammen. Nicht jeder Spinner weiß, dass man die für rituelle Magie verwenden kann.
An der Uni hatte ich ein Semester vergleichende Religionswissenschaft belegt, bei einem Professor, der ein Faible fürs Nordische hatte. Dadurch kannte ich mich ziemlich gut damit aus. Das war zwar Jahre her, aber ich wusste noch genug, um zu stutzen.
»Das ist Unsinn«, sagte ich.
»Was?«, fragte Zerbrowski.
Ich zeigte auf die Wand. »Es ist eine Weile her, seit ich mich auf dem College mit Runen beschäftigt habe, aber der Täter hat sie in der alphabetischen Reihenfolge hingeschrieben. Wenn man wirklich ein Ritual abhält, verfolgt man einen bestimmten Zweck. Da benutzt man nicht alle Runen, zumal einige entgegengesetzte Wirkungen haben. Ich meine, man wird nicht gleichzeitig eine Rune für Chaos und eine für Ordnung einsetzen. Ich kann mir kein Ritual vorstellen, wo man alle gleichzeitig verwendet. Selbst dann nicht, wenn man Gegensätze beschwören will – Heilung, Verletzung, Chaos, Ordnung, Gott, Göttin. Manche lassen sich auch gar nicht als Gegensatzpaare verwenden. Und außerdem stehen sie wie gesagt in alphabetischer Reihenfolge da.«
Ich ging zurück
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