Finsteres Verlangen
Tag einen Pomme de sang brauchen. Und wenn ich sie erst einmal aus der Ferne sättigen konnte wie Jean-Claude, dann brauchte ich gar keinen Pomme de sang mehr. Oder?
Er blickte mich besorgt an. »Was ist los, Anita?«
Ich schüttelte den Kopf.
Er machte einen Schritt auf mich zu, und dabei glitt ihm das Haar über eine Schulter nach vorn. Mit einer kleinen Kopfbewegung beförderte er sie wieder nach hinten.
Ich musste die Augen zumachen und mich aufs Luftholen konzentrieren, langsam ein- und ausatmen. Ich wollte nicht weinen. Ich würde verdammt noch mal nicht weinen. Jedes Mal, wenn ich glaubte, wegen Richard nicht mehr heulen zu müssen, stellte ich fest, dass ich mich geirrt hatte. Jedes Mal, wenn ich glaubte, er könne mir nicht mehr wehtun, fiel ihm wieder etwas Neues ein. Nur aus Liebe kann so bitterer Hass werden.
Als ich die Augen aufmachte, stand Nathaniel ganz nah bei mir. Ich starrte in diese mitfühlenden, lila Augen, in dieses weiche, besorgte Gesicht und hasste ihn. Keine Ahnung, warum, aber ein bisschen hasste ich ihn. Vielleicht weil er kein anderer war. Weil er lange Haare hatte. Weil ich ihn nicht liebte. Oder vielleicht, weil ich ihn liebte. Aber es war nicht dasselbe, was ich für Richard empfand. Ich hasste ihn, und ich hasste mich. In diesem Augenblick hasste ich jeden in meinem Leben, jeden und alles und mich selbst am meisten.
»Wir verschwinden hier«, sagte ich.
Er runzelte die Stirn. »Wie bitte?«
»Du, ich und Jason hauen hier ab. Ich muss sowieso mit Jason im Zirkus sein, bevor Jean-Claude wach wird. Wir packen eine Tasche und überlassen Richard das Haus.«
Nathaniel machte große Augen. »Du meinst, wir bleiben so lange weg, bis Richard nicht mehr hier ist?«
Ich nickte, vielleicht ein bisschen zu schnell und zu oft hintereinander, aber ich hatte einen Plan und würde mich daran halten.
»Was wird Micah sagen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Er kann zu uns in den Zirkus kommen.«
Einen Moment lang musterte Nathaniel mein Gesicht, dann zuckte er die Achseln. »Wie lange bleiben wir dort?«
»Keine Ahnung«, sagte ich und sah weg. Er machte keine Einwände, nannte mich nicht feige, er konzentrierte sich auf die nüchterne Tatsache, dass wir für eine Weile auszogen.
»Ich werde für ein paar Tage packen. Wenn wir mehr brauchen, kann ich herfahren und es holen.«
»Tu das.«
Er ging zur Tür, während ich mich suchend umsah. »Dein Gürtel liegt am Fußende des Bettes.«
Darauf sah ich ihn an. Er hatte einen ungewohnten Ausdruck in den Augen, wirkte plötzlich so viel erfahrener, dass ich gequält wegsehen wollte. Aber ich floh bereits vor Richard. Ich konnte nicht vor allem davonlaufen. Eine große Feigheit pro Tag war das Höchste, was mein Ego verkraften konnte.
»Danke«, sagte ich und klang zu kraftlos, zu heiser, zu sonst was.
»Soll ich für dich auch eine Tasche packen?« Sein Gesichtsausdruck war wieder neutral, als hätte er bemerkt, dass dieser Blick für mich zu schmerzhaft gewesen war.
»Das kann ich selbst«, antwortete ich.
»Ich kann gerne für uns beide packen, Anita, das macht mir nichts aus.«
Ich wollte widersprechen und stockte. Zwanzig Minuten lang hatte ich nach meinem Gürtel gesucht und ihn vermutlich zweimal direkt unter der Nase gehabt, ohne ihn zu sehen. Wenn ich in dem Zustand packte, würde ich wahrscheinlich die Unterhosen vergessen. »Na gut.«
»Was soll ich Sergeant Zerbrowski sagen?«, fragte er.
»Ich rede mit ihm, während du packst.«
Nathaniel nickte. »Okay.«
Ich nahm mir noch die Zeit, das T-Shirt in die Hose zu stecken, den Gürtel und das Schulterholster anzuziehen. Automatisch kontrollierte ich, wie viel Munition in der Browning war. Ich wollte zu Nathaniel etwas sagen, aber vor diesen erfahrenen Augen in dem jungen Gesicht war alles, was mir einfiel, zu dürftig. Wir flüchteten aus dem Haus, weil Richard hier war. Und nach dieser Entscheidung wusste ich nicht mehr, was ich noch sagen sollte.
Ich ging in die Küche zum Telefon und fragte mich, ob Zerbrowski überhaupt noch dran war oder ob er die Geduld verloren hatte.
27
A ls ich in die Küche kam, hing der Hörer am Haken und am Tisch saß Caleb. Von den neuen Leoparden, die Micah mitgebracht und in mein Rudel eingegliedert hatte, konnte ich ihn am wenigsten leiden. Er hatte die anziehende Art eines jungen Strichers, ein bisschen MTV-mäßig: lockige braune Haare, die an den Seiten kurz geschnitten und oben so lang waren, dass sie ihm kunstvoll über die Augen
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