Finsterherz
Anna-Maria fest, dass Häller noch nicht gefunden hatte, wonach er suchte. Sonst hätte er kaum eine Belohnung für Mathias’ Ergreifung ausgesetz t – und erst recht nicht eine so hohe Summe. Aber was sollte Mathias denn nun gestohlen haben? Das wussten die Götter.
All das ging Anna-Maria durch den Kopf, als sie versonnen auf die Rücken der Kutschpferde blickte, auf denen die Zügel lagen. Lutsmann konnte sie beinahe denken hören.
»Mein Herzblatt?«
»Wir hätten ihn nie verkaufen dürfen.«
Lutsmann hütete sich, sie daran zu erinnern, dass es ihre eigene Idee gewesen war.
»Vielleicht können wir ihn zurückkaufen?«, schlug er stattdessen vor.
Sie blickte ihn finster an. »Idiot.« Doch dann nahm ihr Gesicht auf einmal einen verschlagenen Ausdruck an. »Aber wir könnten Doktor Häller bei seiner Suche behilflich sein. Ohne uns kann man ihm ja jeden x-beliebigen Jungen andrehen. Immerhin kennen wir Mathias und seine Eigenarten.«
»Ich erinnere mich, dass wir ihn richtig ins Herz geschlossen hatten«, sagte Lutsmann.
»Ihn geliebt wie unseren eigenen Sohn«, ergänzte Anna-Maria.
»Un d …« Lutsmann hielt inne. »… wenn wir ihn dann finden, meine Lieb e …?«, fragte er unsicher.
»Er ist sehr viel mehr wert, als Doktor Häller für ihn zahlen will.« Sie hakte sich zärtlich bei ihm ein. »Sehr viel mehr.«
Katta und Mathias gingen langsam neben Köngis Pferd her. Vor drei Tagen hatten sie sich von den Reisenden in der Kutsche getrennt und waren seitdem wieder allein unterwegs. Mathias saß meist vor König im Sattel, doch immer wieder, wie auch jetzt, hob König ihn herunter und ließ ihn ein kleines Stück Weg zu Fuß gehen. Er strich täglich die Wunde mit der schwarzen Salbe ein und wechselte den Verband an Mathias’ Schulter. Sie war steif und tat noch weh, aber die Wunde war sauber und heilte. Mehr Schmerzen bereiteten Mathias die Rippen. Bei der Begegnung mit Walter war er erneut darauf gefallen, und obwohl König seinen Brustkorb mit einem Stück Laken so fest bandagiert hatte, wie er es eben aushielt, spürte Mathias bei jeder Bewegung die Knochen an den Bruchstellen aneinanderreiben. Ihm war ständig kalt und übel. Dabei spielte es keine Rolle, ob er zu Fuß ging oder ritt, es war immer dasselbe. König goss ihm ab und zu ein wenig von der öligen, bitteren Flüssigkeit aus der kleinen Flasche in die Verschlusskappe und ließ ihn trinken. Was immer diese Arznei enthielt, es betäubte den Schmerz, aber er war danach immer ganz verwirrt und fühlte sich, als wäre er nicht mehr von dieser Welt. Er spürte dann seine Fingerspitzen nicht mehr und die Zunge lag ihm schwer im Mund. Ihm missfiel dieser Zustand, aber seine Brust schmerzte zu sehr, als dass er das Zeug hätte ablehnen können, und so trank er jedes Mal die Verschlusskappe leer, wenn König sie ihm hinhielt.
In den paar Tagen, in denen sie zu Fuß gegangen waren, hatte sich Stefans Laune noch erheblich verschlechtert. Oft antwortete er nicht, wenn König mit ihm sprach, und versuchte auch nicht mehr, mit Mathias ein Gespräch anzufangen. Wenn Katta seinen Blick auffing, starrte er sie so lange an, bis sie wegschaute. Das lag weniger daran, dass sie seinem Blick nicht standhalten konnt e – sie hätte selbst eine Katze niederstarren können. Es lag viel mehr an der tiefen, hässlichen Wunde, die quer über seine Stirn lief. Die Narbe würde ihm sein Leben lang bleiben. Sie würde das Erste sein, was Fremden an ihm auffiel, und das Erste, woran sie dachten, wenn sie sich an ihn erinnerten. Aber dieser Gedanke verschaffte Katta keine Befriedigung. Jetzt, da sie ihre Rache gehabt hatte, fühlte sie sich nicht so wie erhofft. Wenn sie überhaupt etwas empfand, dann war es Scham, doch weshalb, verstand sie nicht. Nicht nach dem, was er ihr angetan hatte. Aber wenn Katta daran dachte, was passiert wäre, hätte Mathias ihn nicht rechtzeitig aufgeweckt, stockte ihr jedes Mal der Atem.
Von all dem wusste Stefan jedoch nichts. Er wusste nur, was König ihm erzählt hatte, und damit konnte er nichts anfangen. Er erinnerte sich nicht an Katta. Es war ihm egal, ob er es gewesen war, der sie verletzt hatte. Er hatte im Spiegel an der Wand gesehen, was sie mit seinem Gesicht gemacht hatte, alles andere zählte nicht.
König hatte ihm sein Messer zurückgegeben. Katta wünschte, er hätte es nicht getan. Sie überlegte, ob sie es erneut heimlich an sich bringen könnte, doch Stefan würde kaum ein zweites Mal so unaufmerksam
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