Finsterherz
was für sie früher undenkbar gewesen wäre. Aber diese Geste hatte nichts zu bedeuten, das wusste Mathias. Er beobachtete die beiden. Sie waren wie ein Pulverfass, das nur auf den zündenden Funken wartet.
Schließlich gelangten sie durch eines der Tore in die Stadt. Mathias war überwältigt von dem Anblick; noch niemals hatte er so etwas gesehen. Städte wie diese, in denen die Häuser vergoldete Giebel hatten und die schmalen Gassen voller Marktstände und Menschen waren, hatte Lutsmanns Zirkus nie besucht. Selbst Stefan, der so tat, als könnte ihn das alles nicht beeindrucken, blickte sich mit offenem Mund um. Nur König blieb ungerührt; daraus schloss Mathias, dass er solche Wunder schon hundertmal erblickt haben musste.
Unter den Herbergen der Poststation, die sich innerhalb der Stadtmauern befanden, wählte König das Gasthaus unten am Hafen. Es war dasjenige, in dem sich die Reeder und Händler der Stadt trafen, um ihre Geschäfte zu erledigen. Er mietete ein Zimmer am oberen Ende einer schmalen Treppe. Es hatte ein hohes Fenster, von dem aus man auf die Masten der Kähne im Hafen blicken konnte; sie waren zum Greifen nah. Von ihrem Zimmer aus konnten sie auch übers Eis zu der kleinen dunklen Insel hinüberschauen und zu den Schiffen, die dahinter vor Anker lagen. Obwohl er schon so viel herumgereist war, hatte Mathias noch nie ein Schiff gesehen.
Er setzte sich neben Katta auf das Fensterbrett und blickte aufs Wasser, den Jackenkragen bis zum Kinn hochgeschlagen. Er hatte ungeduldig darauf gewartet, wieder mit ihr reden zu können, darauf, dass sie wieder sie selbst wurde, denn während er vor König im Sattel gesessen hatte, war ihm ein Gedanke nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Er hatte mit ihr darüber sprechen wollen, doch bis jetzt war keine Gelegenheit dazu gewesen.
Warum hatten er und Gustav in Lutsmanns Wagen gehaust, wenn Gustav einfach einen Schatz hätte heben können? Das ergab doch keinen Sinn. Außerdem hatte Gustav nie einen Schatz erwähnt. Gustav hatte gesagt, er kenne ein Geheimnis. Er hatte nicht gesagt, er hätte eines. Er kenne eines. Und das war etwas anderes. Ein Geheimnis ist etwas, was dir jemand anders nicht verraten will. Vielleicht verriet der Zettel ja genau das: den Ort, an dem der Schlüssel zu einem Geheimnis versteckt war. Und der Gedanke, der ihm nicht mehr aus dem Kopf ging, lautete: Was mochte es sein, das jemand mit allen Mitteln verbergen wollte?
Während er darüber nachgegrübelt hatte, war ihm auch etwas anderes wieder eingefallen. Er hatte sich an die Nächte im Wagen erinnert, als Gustav immer wieder gefragt hatte, ob es schon Morgen sei. Nur war ihm jetzt klar, dass Gustav das überhaupt nicht hatte wissen wollen. Immer wieder hatte er dasselbe gefragt, die Augen weit aufgerissen, mit irrem Blick: »Ist es heller?« Aber Gustav hatte gar nicht den anbrechenden Morgen gemeint. Er hatte von dem Mann Häller gesprochen.
Mathias blickte zu Katta auf und sein Gesicht war blass und ernst. »Es ist kein Schatz«, sagte er. Er wusste, dass sie wünschte, es wäre einer. Er warf einen Blick hinüber zu Stefan und König, doch sie schauten nicht her. Er senkte die Stimme, sodass Katta ganz genau hinhören musste, um ihn zu verstehen. »Es ist etwas, was er gewusst hat«, fügte er hinzu.
Sie war nicht sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatt e – sie fühlte sich immer noch benomme n – doch dann wurde ihr klar, dass sie richtig gehört hatte, und sie runzelte die Stirn.
»Aber dann ist es doch nichts wert«, meinte sie.
»Kommt darauf an, was es ist.«
Sie schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht, weil die Bewegung wehgetan hatte. »Es muss etwas wert sein, sonst würden die andern nicht auch danach suchen.«
Mathias sah sie an. Das war der zweite Punkt, über den er nachgedacht hatte. »Wer sagt, dass sie es tun?«, fragte er.
Was immer König im Sinn hatte, er behielt es für sich, nur Stefan wusste offenbar Bescheid, denn König schickte ihn mit irgendeinem Auftrag weg. Er war ungefähr zwei Stunden verschwunden. Als er zurückkam, verfolgte König aufmerksam seinen Bericht, aber da nur in der Sprache der Köhler geredet wurde, konnte Mathias kein Wort verstehen, wie sehr er sich auch anstrengte.
Er beobachtete die beiden. Sie hatten eine seltsame Art, miteinander umzugehen. Da war etwas, was er einfach nicht verstand. Er hatte gehört, wie Stefan Widerworte gegeben hatte; dann wieder hatte er so getan, als hätte er nicht gehört, was König
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