Finsternis über Gan (German Edition)
sicher, ob überhaupt jemand weiß, wer Schloss Apelah erbaut hat, aber sein Erbauer soll zu den Personen gehören, die aus Gan verbannt wurden«, erklärte Nathanus.
»So, wie Harah damals noch als Me’ir verbannt wurde?«, fragte Finn.
»Genau so. Aus diesem Grund wollte auch für viele Hundert Jahre niemand dort wohnen. Wir waren alle überrascht, als der König Schloss Apelah zu seiner Residenz machte«, erläuterte das Einhorn.
Nach einer weiteren halben Stunde standen sie vor einem wuchtigen Schlosstor. Davina klopfte mit geballter Faust kräftig an. Sogleich fragte eine Stimme von der Zinne: »Wer da?«
So laut er konnte, antwortete Joe: »Die vier Träger der Amulette, zusammen mit der Menschfrau Davina aus Änosch und dem Einhorn Nathanus aus dem Zauberwald.«
Von der Burgzinne drang hektisches Getuschel herunter. Befehle wurden erteilt und das Schlosstor geöffnet. Der erste Blick in den Schlosshof war keineswegs schöner als der äußere Anblick der Schlossmauer. Kalte Steine, die selbst diesen sonnigen Tag trübe aussehen ließen. Die Freunde rückten dicht aneinander. Es war ihnen nicht wohl bei dem Gedanken, dem Herrn dieses Schlosses entgegentreten zu müssen. Nur Augenblicke später kam ihnen eine ältere Dame in einem bordeauxfarbenen Kleid entgegengelaufen, das mit unzähligen Goldplättchen bestickt war. Zwischen den riesigen Puffärmeln blickte ein freundliches, von einer weißen Haube umrahmtes Gesicht hervor.
»Das ist die Mutter des Königs«, hauchte Davina den vieren zu. »Noch vor zwei Jahren hat sie genau wie wir auf dem Feld gearbeitet.«
»Was für eine Ehre. Was für eine unfassbare Ehre«, rief die Königinmutter mit schriller Stimme. »Mein Sohn, der König, wird entzückt sein.«
In einem für ihr Alter erstaunlichen Tempo eilte sie ihnen entgegen und reichte den vieren die Hand. Dem Einhorn und Davina nickte sie kurz zu.
»Kommt, folgt mir, der König wird euch gewiss gleich vorlassen. Was für eine Ehre.«
Die vier Gefährten mussten über die überschwängliche Begrüßung schmunzeln, Davina und das Einhorn dagegen zeigten nur versteinerte Gesichter.
Die Königinmutter lotste sie durch eine große Halle in den Raum vor dem Thronsaal. An der linken Wand standen einige Wartebänke, auf denen ein paar Bauernburschen saßen, die neugierig zu ihnen herüberschauten, und an der gegenüberliegenden Seite befanden sich einige mit rotem Samt gepolsterte Sessel, auf denen die Amulettträger Platz nehmen durften. Zögernd schaute die Königinmutter zu Davina, der sie dann ebenfalls einen Sessel zuwies. An das Einhorn gewandt sagte sie kühl: »Du benötigst ja keine Sitzgelegenheit.« Nathanus schwieg.
Nachdem die Königinmutter den Raum in Richtung Thronsaal verlassen hatte, platzte es aus den vier Freunden heraus. Sie waren über das Benehmen der Königinmutter fassungslos.
»Was denkt die eigentlich, wer sie ist?«, schnaubte Joe. »So kann sie doch Nathanus nicht behandeln.«
»Zu dir, Davina, war sie auch nicht freundlicher. Wie sie dich angesehen hat«, sagte Chika, der Umgangsformen sehr wichtig waren.
»Eigentlich gehöre ich da drüben hin«, erklärte Davina und schaute zu den Bauernburschen. »Auf diesen Sesseln hier dürfen nur hochgestellte Gäste sitzen. Aber es war ihr wohl peinlich, das vor euch zuzugeben.«
Finn setzte gerade an, seinem Ärger über diese Regel Luft zu machen, denn immerhin hatten alle Bewohner des Landes gleichermaßen, ohne Unterschied, für dessen Freiheit gekämpft, da öffneten sich beide Flügel der Tür zum Thronsaal. Die Gefährten schauten in einen von Kerzen hell erleuchteten Raum, der vollkommen anders war als alles, was sie bis dahin im Schloss gesehen hatten. Der Boden war mit einem wunderschönen Parkett belegt, das mit Intarsien, feinen Einlegearbeiten aus Gold, verziert war. An den Wänden hingen Teppiche, die Szenen aus der Geschichte Gans darstellten. Am Kopfende saß auf seinem erhöhten Thron Seine Majestät König Farlon I. Er trug eine goldene Krone, an deren Stirnseite mit wunderschönen Aquamarinen das Symbol der vier Lebensströme eingesetzt war. Sein Umhang aus blauem Samt war von weißen Hermelinpelzen umsäumt. Selbst die Wachen links und rechts von seinem Thron trugen festliche Uniformen mit goldenen Helmen, Brustschilden und Schwertern. Die äußere Pracht aber beeindruckte die Besucher nicht im Mindesten. Als sie den König prangend auf seinem Thron sitzen sahen, kamen sie sich wie in einem kitschigen Film vor.
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