Firkin 3: Das Wurmloch ins Biblioversum
sie zusammengekommen und schrien und brüllten, einer lauter als der andere. Jeder wollte seine Geschichte loswerden. Genauer gesagt wollte jeder loswerden, daß seine Geschichte nicht mehr das war, was sie eigentlich sein sollte.
Tiefer und immer tiefer furchte sich die Stirn des Herausgebers, die schweren Ackergäule der Besorgnis zogen die Pflüge des Kummers durch das Feld über den Augenbrauen. Zu Tausenden stapelten sich die Meldungen, die von unerlaubter Abwesenheit berichteten. Ganze Wagenladungen Jungfern und Maiden waren weit über Gebühr in Bedrängnis geraten, weil es unversehens an Helden mangelte, die ihnen zu Hilfe eilen sollten. Erzürnt schwenkte die Menge ihre Transparente und forderte Sonderzulagen und Härtefallvergütungen. Andere Fabelheroen dagegen schäumten vor Wut, weil man sie vergeblich auf ihre Widersacher warten ließ, auf ihre Gegenspieler, die verschwunden waren. Insbesondere ein aufs äußerste verstimmter Sankt Georg muß hier erwähnt werden, der extra sein Schwert gewetzt, die Anatomie der Drachen gebüffelt und sich – wegen des anstehenden Termins mit dem Illustrator – die Nacht um die Ohren geschlagen hatte, um seine Rüstung auf Hochglanz zu bringen.
Überall in den Kapiteldimensionen hatte das Chaos sein abscheuliches Haupt erhoben, und jeder wollte wissen, was der Grund dafür war. Nicht zuletzt jene schmutzstarrende Gestalt, die eben durch das gigantische Marmorportal getaumelt war und jetzt auf die dreiteilige Sitzgarnitur des Herausgebers zutorkelte.
Die Menge teilte sich und bildete eine Gasse, um den hinkenden Mann durchzulassen, dem die Kleider in Fetzen am Leib hingen. Es war ein Anblick, der fast schon die Grenzen der Schicklichkeit verletzte, und es war ein Rätsel, wie diese fadenscheinige Flickensammlung noch zusammenhielt.
»Wißt ihr, was mir heute auf dem Nachhauseweg widerfahren ist?« krächzte Prinz Khevynn von Perht. Dann brach er auf der Sitzgarnitur des Herausgebers zusammen. Er keuchte vor Erschöpfung. Es war eine bewundernswerte schauspielerische Leistung.
»Nein!« brüllte die Menge. »Aber du wirst es uns sicher gleich erzählen!«
»Laß mich raten«, stöhnte der Herausgeber. Er schüttelte schicksalsergeben den Kopf und rutschte verdrießlich auf dem Sofa hin und her. »Dein Drache ist mitten im Flug urplötzlich verschwunden …«
Khevynn sah ihn verblüfft an.
»… und du bist abgestürzt, tausend Meter tief oder noch tiefer …«
Dem Prinzen blieb der Mund offen stehen.
»… und hast nur überlebt, weil du wie durch ein Wunder auf einem dicht bewaldeten Berghang gelandet bist, wo dein Sturz durch unzählige Äste abgebremst wurde«, beendete der Herausgeber seine Schilderung und zog einen floral gemusterten Sofaschoner hinter dem Rücken des verdreckten Prinzen weg.
Khevynn riß verwundert die Augen auf: »W… W… Wie könnt Ihr das wissen?«
»Och, nur so eine Vermutung«, sagte der Herausgeber und begutachtete die diversen Nadelbaumzweige, die in Khevynns zerfleddertem Fliegerkittel steckten.
»Der Herausgeber weiß Bescheid«, schrie jemand von hinten. »Es handelt sich um eine Neufassung!«
»Eine Verschwörung!«
»Nein! Nein, ich …«, fing der Herausgeber an.
»Er verscherbelt uns als Serienware! Als Fortsetzungshäppchen!« wetterte der Herzkönig.
»Nein!«
»… als Cartoons …«
»… ich würde nie …«
»… für Laterna-Magica-Rechte!«
Die wütende Menge schwenkte aufgeregt die Transparente, und der Herzkönig geiferte: »Wir alle hier kennen Eure Ansichten in Sachen Zweit- und Drittverwertung! Ich sage nur Neuauflage: Das Buch zum Straßentheater! Oder Lizenzverkäufe an Masken- und Moriskentanztheater zu Fantasy- Preisen! Jetzt ist es soweit: Der Ausverkauf der Literatur hat begonnen! Litnapping nenne ich das!«
Der hochgewachsene, dünne Zauberer mit dem nicht mehr ganz weißen Bart, dem spitzen Hut, der Eule und dem wallenden saxofranfarbenen Gewand, der bisher in einer Ecke gestanden und mit wachsender Besorgnis zugehört hatte, trat jetzt plötzlich vor die Menge: »Meine lieben Freunde und Fiktionsgenossen!« rief er und breitete die Arme aus, als wollte er eine stürmische See besänftigen. »Was hier geschieht, ist weit schlimmer als bloße Ausbeuterei! Viel gravierender als jede Umarbeitung und Neufassung!«
»Wie bitte? Hat man dich schon jemals umgearbeitet und neubearbeitet? Weißt du überhaupt, was es heißt, wenn deine Welt auf den Kopf gestellt wird und alle Regeln geändert
Weitere Kostenlose Bücher