Fische füttern - Genovesi, F: Fische füttern - Esche Vive
diese schreckliche Geschichte, an die ich jeden Tag denke und die nur ich kenne. Ich und meine Mutter.
»Aber am nächsten Morgen hatte ich es vergessen, ich bin in die Schule gegangen und habe das Glas unterm Bett stehen lassen. Als ich am Nachmittag nach Hause kam, war niemand da. Es war Mittwoch, und mein Vater war mit der Mannschaft unterwegs. Ich geh also die Treppe hoch und höre keinen Laut, ich komme in mein Zimmer und sehe meine Mutter am Boden liegen, einen Arm ausgestreckt, neben ihr der Kehrbesen und daneben das Kater-Sylvester-Glas, umgekippt.«
»Ähm, Verzeihung, Signore.« Zum ersten Mal wendet Mirko die Augen vom Schwimmer ab und schaut mich an. »Ist Ihre Mutter etwa so gestorben?«
»Nein, du Trottel, sie war ohnmächtig, hat sich aber sofort wieder erholt. Sie sagte, es wäre nur ein Schwächeanfall gewesen, dann ist sie ins Bad und hat sich kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt. In der Zwischenzeit bin ich runtergegangen und hab das Glas ausgespült. Und wir haben nicht mehr drüber gesprochen.«
»Ach so, ich dachte schon, sie wäre so gestorben.«
»Nein, sie wurde ohnmächtig, das hab ich doch grade gesagt.« Ich richte meinen Blick wieder aufs Wasser, um den Schwimmer haben sich zwei weitere konzentrische Kreise gebildet. »Meine Mutter ist in der Bank gestorben. Am nächsten Tag .«
Schweigen. Nur die Frösche sind zu hören. Die Frösche und mein Herz.
Ich habe es gesagt. Ich hätte nie gedacht, dass ich das jemals einem Menschen erzählen würde, und jetzt habe ich es einem dämlichen, potthässlichen Knirps erzählt. Vielleicht hätte ich es Tiziana erzählen sollen, sie hätte verstanden, warum mir diese Geschichte so zu schaffen macht. Der Kleine dagegen schaut mich ausdruckslos an, und sein Blick sagt mir, dass er nichts kapiert hat.
»Signore, ich bitte um Entschuldigung. Ich hatte es so verstanden, dass die Geschichte von dem Glas etwas mit dem Tod Ihrer Mutter zu tun hat. Verzeihung, es muss an dem Horrorfilm von gestern Abend liegen, dass ich auf so merkwürdige Ideen komme.«
»Schieb die Schuld bloß nicht auf den Film, der Dummkopf bist du«, sage ich und will die Geschichte damit abschließen. Aber ich schaffe es nicht, ich schaffe es einfach nicht und erzähle weiter. »Na ja, also … irgendwie hat sie doch was damit zu tun, oder? Ich meine, es könnte doch immerhin sein. Glaubst du nicht?«
»Nein, Signore, meiner Ansicht nach nicht, aber das wissen Sie besser.«
»Selbstverständlich hat es was damit zu tun, du Trottel. Meine Mutter ist in der Bank gestorben. Die Frau, die in der Schlange hinter ihr stand, hat gesehen, wie sie zu Boden gesunken ist, und aus war’s. Und ein paar Tage später hat der Arzt mit mir gesprochen und gesagt, dass der menschliche Körper nun mal so ist. Manchmal macht es Klick, dann legt sich der Schalter um, und es ist aus, ohne jede Vorwarnung, da kann man nichts machen. Und dann habe ich ihn gefragt, ob man etwas hätte machen können, wenn es ein Warnsignal gegeben hätte. Und er meinte, ja, vielleicht schon, und dann hab ich ihn gefragt, ob ein Ohnmachtsanfall so ein Warnsignal hätte sein können, und er meinte, ja, klar, sicher, ja … Verstehst du jetzt, du Trottel, verstehst du jetzt? Es gab dieses Warnsignal, am Tag vorher ist meine Mutter vor meinen Augen in Ohnmacht gefallen, verdammt, und ich, was habe ich gemacht? Ich bin in die Küche gegangen und hab das Glas gespült und so getan, als wär nichts passiert.« Ich halte kurz inne, ich versuche zu atmen, ich kriege keine Luft, aber wenigstens schreien kann ich: »Hast du verstanden, du Trottel? Ich habe so getan, als wäre nichts passiert!«
Meine Stimme wird von der Kanalböschung zurückgeworfen, und für einen Moment verstummen sogar die Frösche. Dann quaken sie weiter, munterer als zuvor.
Gott, ich wäre so gern ein Frosch. Ich würde nichts vermissen, denn ich lebe sowieso am Kanal und führe dasselbe sinnlose Leben. Nur dass Frösche nicht ins Grübeln kommen und ruhig vor sich hin leben. Sie müssen sich nur vor den Killerkrebsen und den Kanalratten in Acht nehmen und können sonst friedlich schlafen, ohne von ihrer Mutter zu träumen, die sie leichenblass anstarrt, die Haare schweißverklebt, mit einem Kater-Sylvester-Glas in der Hand.
Aber warum habe ich dieses verfluchte Glas nicht kaputt gehauen, warum habe ich es nicht noch am selben Tag in tausend Scherben zerschlagen, warum habe ich es ganz hinten im Schrank versteckt, wo diese kleine Nervensäge es sofort
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