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Fischer, wie tief ist das Wasser

Fischer, wie tief ist das Wasser

Titel: Fischer, wie tief ist das Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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diesem Augenblick.» Seine Hand begann meine Hüfte zu streicheln.
    Ich atmete flach und leise, wollte die Berührung nicht durch ein unachtsames Luftholen verscheuchen. Als er schließlich sein Gesicht vor meines schob und ich über die Weichheit seiner Lippen staunte, da ließ ich das Atmen ganz bleiben, öffnete den Mund und sog den Kuss gierig in mich auf.
    «Geht es dir jetzt besser?», fragte er zwischen zwei Atemzügen, und ich nickte. Es ging mir besser. Es war wunderbar, ihn zu schmecken.
    Wir waren weit entfernt vom festen Boden, unser Boot schaukelte zwischen wunderbar tristen Sandbänken im seichten Wasser. Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit inzwischen vergangen war, irgendetwas zwischen einer Minute und tausendStunden, doch die Ebbe hatte bereits eingesetzt, als er den ersten Knopf meines Kleides öffnete. Wir hatten keine Ahnung, dass die Welt um uns herum nicht stehen geblieben war, dass die Gezeiten weiterhin ihrem Rhythmus folgten. Und dass auf einen unerträglich heißen Tag oft ein tobender Himmel folgt, hatten wir ganz und gar vergessen, als wir nackt, verschwitzt und glücklich in der Kajüte lagen.
    Erst der sanfte, knirschende Schub unter dem Kiel weckte uns auf und holte uns zurück auf das Boot im Wattenmeer irgendwo zwischen Juist, der unbewohnten Vogelinsel Memmert und dem weit entfernten Festland. Die Augustsonne war kurz davor, als hellroter Riesenball im Nordwesten hinter den Juister Dünen zu verschwinden.
    «Wir sind auf eine Sandbank gelaufen», sagte Sjard, er schien sich ein wenig darüber zu freuen, jedenfalls blieb er lächelnd neben mir liegen und rührte sich keinen Zentimeter.
    «Ist das denn schlimm?», fragte ich ohne einen Funken Aufruhr in meiner Stimme. Was sollte schon passieren? Was? Er lag hier und die Welt gehörte uns, tanzte nach unserer Pfeife.
    «Im Wattenmeer kann nichts passieren. Es bedeutet nur, dass wir auf die Flut warten müssen. Ein paar Stunden vielleicht, dann hat unser Boot wieder genug Wasser unterm Kiel und wir können endlich von hier verschwinden.»
    «Endlich?», fragte ich lachend. «Lass uns die Zeit nutzen und etwas Sinnvolles tun.»
    «Also», sagte er und mimte ganz den Lehrer. «Entweder wir versuchen, uns jetzt noch von der Sandbank hinunterzuschieben, denn in ein paar Minuten haben wir zu wenig Wasser dazu.»
    «Oder?», fragte ich, denn ich hatte keine Lust, mit den Füßen im Wasser zu stehen und meine so wohlig ausgestreckten Arme und Beine in Aktion zu versetzen.
    «Oder wir bleiben, wo wir sind.»
    Ich legte mich auf ihn und umgriff fest und fordernd seine Handgelenke. Er ließ sich gern von mir überreden, liegen zu bleiben.
     
    Wenn an der Küste das Wetter umschlägt, so geschieht es gnadenlos und von einer Minute auf die andere.
    Erst läuft das Wasser ab, gluckert durch die schlammigen Kanäle und sammelt sich irgendwo an einem unbekannten Ort. Es hinterlässt eine graue Einöde, die erst beim niedrigsten Wasserstand freigelegt wird, nicht wirklich hässlich, aber trostlos. Wie ein nacktes Fleckchen Erde, welches sich windet und das auflaufende Wasser herbeisehnt, um nicht so verwundbar unter dem freien Himmel zu liegen.
    Zwischen Ebbe und Flut gibt es noch ein paar Sekunden, in denen die Luft zu stehen scheint, in denen in den Sanduhren die feinen Körnchen im engen Hals stecken bleiben.
    Und dann dreht der Wind, pustet sich frei. Gierig wie ein Vakuum saugt sich die Atmosphäre voll mit diesem frischen Wind, lässt ihn zu einem Sturm anschwellen, treibt ihn in hastigen Wirbeln und aggressiven Böen über die Erde. Zeitgleich kommt das Wasser zurück, erobert die trockenen Stellen des Wattenmeeres. Gnade dem, der die Vorzeichen nicht erkannt hat, die tief fliegenden, gespannten Möwen, den schwarzen Horizont übersah.
    Gnade dem, der die Angriffslust eines Sturmes unterschätzt.
    Sjards Hände lagen fest und sicher auf meinem Rücken, seine Nägel hinterließen Spuren auf meiner Haut, die ich fühlte wie Peitschenhiebe. Ich wollte mir noch mehr zumuten, mehr von diesem heißen, klaren Schmerz, der mich endlich fühlen ließ, dass ich da war, dass ich zur Erde gehörte, zum Feuer, zum Wasserund zur Luft. Und dann kam der Wind. Er blies ohne Vorwarnung über unsere Körper hinweg und fühlte sich falsch an, weckte in mir den Verdacht, dass etwas nicht stimmte, dass etwas absolut nicht stimmte.
    Ich setzte mich auf und hielt den Atem an, um dem Geschehen auf dem Meer zu lauschen. Das erste Grollen, das wir bewusst wahrnahmen, war

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