Fischerkönig
Teller in Richtung des Gastes vor ihnen in der Schlange. Heiko reckte hungrig den Hals, das war schon ganz was Feines. Endlich waren die beiden dran, und Lisa konnte nicht umhin, den Wirt zu fragen, um welche Sorte Tier es sich denn bei dem ausgestopften Vieh in der Ecke handele. Der Wirt rückte seine Brille zurecht und strich sich über die hellgraue Bürstenfrisur. Dann sagte er: »Des, junges Fräulein, des is a Wolpertinger!«
»Ein was?«
»Ein Wol-per-ting-er«, wiederholte der Wirt und zeigte tatsächlich auf das komische Tierchen.
»Ah ja«, meinte Lisa. »Interessant. Und wo kommen die vor, die Wolpertinger?«
»Hauptsächlich in Bayern«, schaltete sich Heiko grinsend ein.
»Genau«, bestätigte der Wirt, »aber manchmal auch in Württemberg. Und sie sind nachtaktiv.« Lisa blickte zweifelnd vom einen zum anderen. »Veräppelt ihr mich etwa?«, wollte sie wissen und wirkte ein bisschen beleidigt. Heiko klopfte ihr kameradschaftlich auf den Rücken. »Das sagt der immer, wenn jemand fragt«, erklärte er und wies auf den wie ein Honigkuchenpferd grinsenden Mann.
»In Wirklichkeit ist das ein Beutelkänguru«, gab der Wirt zu.
Fünf Minuten später war Lisa wieder versöhnt. Erwartungsvoll saßen sie endlich vor zwei Tellern mit Graachta Broodwirschd mit Meerrettich, Senf, Essiggurke und Brot. Lisa hatte das kleine Gericht sofort zwar für unglaublich fettig, aber sehr schmackhaft befunden. Sie deutete in die Richtung, in der sie Goldbach vermutete. Von hier aus hatte man einen wunderbaren Rundumblick auf Crailsheim, und heute war die Luft klar und stahlblau. Das steile Spätsommerlicht tat ein Übriges, um die Szenerie zu erhellen.
»Da hat unser Mordopfer gewohnt«, gab Lisa zu bedenken. Heiko nickte kauend. Man sprach nicht, wenn man Graachte Broodwirschd aß. Das wäre ein Sakrileg. Weil Lisa auffordernd schwieg, schluckte er aber dann doch und machte »Hm«.
»Was hat das Opfer noch mal gearbeitet?«, überlegte Lisa laut. Heiko fluchte innerlich. Das war eine Frage, die definitiv nicht mit einem »Hm« zu beantworten war. »Versicherungsfritze«, murmelte er. »Er hatte doch im Haus eine Agentur.« Lisa erinnerte sich an das kleine Schild an der Hauswand, das auf die ›Agentur Siegler‹ hingewiesen hatte. »Und wie läuft so was?«, fragte sie. Heiko steckte sich den letzten Bissen in den Mund, kaute ausgiebig, schluckte bedächtig und sagte dann: »Meistens gibt es pro Dorf eine Agentur. Die ganzen Dörfler machen dann da ihre Hausrats-Lebens-Und-so-weiter-Versicherungen.«
»Und der Makler kriegt Provision und lebt davon«, vermutete Lisa.
»Und nicht mal schlecht, wie du siehst.«
»Naja, jetzt nicht mehr«, gab Lisa zu bedenken.
»Haha«, machte Heiko, grinste aber dabei.
»Und er war auch noch … wie heißt das … Ortsvorsteher?«
»Ja, war er.«
»Und gibt es da auch so was wie einen … Stadtrat?«
»Den Ortschaftsrat«, erläuterte Heiko. »Der beschließt solche Sachen wie die Organisation des Lichterfestes.«
»Ach, und das wollte der Siegler ja abschaffen, nicht?«, erinnerte sich Lisa.
»Anscheinend. Aber das kann er nicht ernsthaft erwarten, dass das durchgeht. Das wäre ja so, als würde man das Volksfest absagen.« Lisa hatte schon erleben dürfen, wie versessen die Crailsheimer auf ihr Volksfest waren. Schon jetzt, Mitte August, redete alle Welt wieder vom Volksfest. ›Noch soundsouvill Deech‹, hieß es, ›ball is widder Volksfeschd. Ii fraab mi scho a sou.‹ Lisa hatte letztes Jahr erlebt, wie sich der Volksfestplatz in einen Hexenkessel aus Partystimmung, Vergnügungspark, Ausstellung von allen möglichen und unmöglichen Dingen und Gegen-den-Baum-pinkeln verwandelt hatte. Schon jetzt sah sie dem Volksfest mit gemischten Gefühlen entgegen, vor allem aber hoffte sie, dass der traumatisierende Kelch des Kuttelessens an ihr vorübergehen würde. Mit Schaudern dachte sie zurück an die bandwurmartigen, schleimigen Dinger, die in einer braunen, säuerlich riechenden Soße schwammen. »Lisa, was hast du denn? Du bist so blass?«, meinte Heiko besorgt und streichelte ihre Wange.
»Oh, es ist nichts. Ich hab nur eben an Kutteln gedacht.« Heiko grinste, was ihm einen vorwurfsvollen Blick eintrug. »Und jedenfalls hatte der … wie heißt er noch?«
»Lothar Holderberg!«
»Genau. Der Lothar Holderberg hatte damit ein ernsthaftes Problem.«
»Naja, aber wegen des Lichterfestes jemanden umbringen?«, gab Heiko zu bedenken.
»Wenn der Bürgermeister das
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