Fischerkönig
sagte sie sich, dass sie irgendwann wieder mit ihm reden musste, wenn sie hier wohnen bleiben wollte. Sie erhob sich also seufzend und ging zur Tür, um sie leise aufzumachen. »Grüß Gott, Herr Sackler.« Sackler sagte erst lange nichts und sah sie einfach nur an. Dann wisperte er ihren Namen. »Irina.« Seine Stimme klang heiser, und er wirkte zutiefst unglücklich. Schließlich fuhr er fort: »Warum?« Irina schluckte. Zum ersten Mal tat er ihr leid, auch wenn er ein blöder, perverser Spanner war. Und wer weiß, vielleicht liebte er sie ja wirklich. Trotzdem. Sie wollte nichts mit ihm zu tun haben. Und vielleicht war die Erklärung des jungen Kommissars die beste. »Ich denke, wir sind quitt, meinen Sie nicht, Herr Sackler?« Der alte Mann vergrub die Hände in den Hosentaschen und senkte den Blick. »Ich hätte das nicht gedacht, Irina. Ich liebe dich doch!« Langsam schüttelte die junge Witwe den Kopf. Dann zog sie mit einem leisen »Lassen Sie mich bitte in Ruhe« die Tür ins Schloss.
So langsam hatte dieser Fall tatsächlich etwas von einer Mission Impossible. Zu viele Verdächtige, zu viele Motive. Sie hatten immer noch keine Ahnung, wer es gewesen sein könnte. Und plötzlich klingelte Heikos Handy. Er nahm den Anruf an und reichte das Telefon an Lisa weiter. »Luft, Lisa?«, meldete sie sich. Eine Minute später legte sie auf. Der Lederjackenmann war der Heilbronner Polizei gestern Abend ins Netz gegangen.
Man hatte den jungen Mann schon nach Crailsheim überführt. Er hatte sich offenbar mit der Bahn absetzen wollen und war dabei von einem Kontrolleur erwischt worden. Nun saß er im Verhörzimmer des Crailsheimer Reviers. Wie immer protokollierte Frau Brucker alle Äußerungen. Lisa und Heiko hatten dem Mann einen Becher schwarzen Kaffees hingestellt. Die Kommissarin musterte den jungen Russen, dessen Züge eindeutig osteuropäisch waren. Ein breites, hochwangiges Gesicht mit stahlblauen Augen, die beinah überirdisch strahlten. Sehr helles Haar, das mittlerweile zerstrubbelt wirkte, unter normalen Umständen jedoch durchaus eine kleidsame Frisur abgegeben hätte. Der Mann hatte beharrlich geschwiegen, sowohl zu seiner Identität als auch zu allen anderen Fragen. Heiko legte wortlos das Foto von ihm und Irina auf den Tisch und wartete ab. Als der Mann auch nach Minuten keinerlei Reaktion gezeigt hatte, half er nach: »Sie kennen diese Frau?« Sein Gegenüber blieb stumm. Wenn er nervös war, so überspielte er seine Regung gekonnt. »Kennen Sie einen Herrn Walter Siegler?« Keine Reaktion. »Es wäre besser für Sie, wenn Sie antworten würden. Sie stehen im Verdacht, ein Mörder zu sein. Also ich an Ihrer Stelle würde auspacken. Das müssen Sie allerdings nicht, wenn Sie sich selbst belasten würden …, Herr …« Der Mann blieb weiterhin stumm. »Sie verstehen aber Deutsch?«, versicherte sich Heiko.
»Gavarisch pa Njemacki?«, fragte Lisa. Heiko sah verwundert zu ihr hin. Jetzt konnte sie auch noch Russisch! Unglaublich!
Der Mann bewegte sich erstmalig. »Ich verstehe Sie sehr gut«, sagte er in einem akzentbehafteten, aber dennoch guten Deutsch. »Aber ich sage nichts.«
»Wollen Sie einen Anwalt?«, fragte Lisa.
»Nein. Ich habe keinen Anwalt.«
»Aber Sie brauchen einen Anwalt!«
»Brauche ich nicht, wenn Sie doch nicht einmal meinen Namen kennen!«
Lisa schürzte die Lippen. Das war ganz schön kompliziert.
»Wir behalten Sie einfach so lange hier, bis Ihnen Ihr Name einfällt«, beschloss Heiko dann.
Lisa und Heiko saßen draußen im Park und schleckten ein Eis, das sie sich im nahen Venezia geholt hatten. Das Venezia war die älteste Eisdiele in Crailsheim, auch wenn mittlerweile bekannt war, dass alle drei einer geschäftstüchtigen italienischen Großfamilie gehörten. Sie hörten die Bäume über sich rauschen und ließen das Verhör Revue passieren. Oder vielmehr das, was man so bezeichnen konnte, mit etwas Fantasie. »Ein harter Brocken«, stellte Lisa fest. »Hm«, machte Heiko und signalisierte damit konzentriertes Nachdenken. »Aber weißt du, was wir versuchen könnten?«, meinte Lisa plötzlich und brach einen Krümel von ihrer Waffel ab, um ihn einem frechen Spatzen zuzuwerfen, der auf einem nahen Busch saß und neugierig herüberäugte.
»Was denn?«
Lisa zückte ihr Handy, wählte und sagte: »Guten Tag, Frau Siegler, wie geht es Ihnen denn? Ja. Prima. Es gäbe da etwas zu klären. Kommen Sie doch bitte kurz auf dem Revier vorbei, ja?« Sie legte auf und
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