Fischland-Rache
gehtâs um die Vergangenheit, darum, ob wir recht haben mit unserem Verdacht. Mir gehtâs um Mirko!«
»Ich weiÃ. Und ich versteh das. Aber Ralf unter Druck zu setzen, ist keine Lösung. Was immer er getan hat, er liebt Mirko, sonst wäre ihm der Streit mit ihm nicht so an die Nieren gegangen, dass er sogar dich um Hilfe gebeten hat. Manchmal â¦Â« Kassandra stockte, weil ihr bewusst wurde, was sie im Begriff war zu sagen â und dass sie dabei gar nicht an Ralf dachte, sondern an Paul und an die Unterhaltung zwischen ihm und Heinz â und an das, was sie daraus schlussfolgerte.
»Was?«, fragte Paul nun nicht mehr ganz so aufgebracht, sondern fast auf der Hut. Oder bildete sie sich das nur ein?
Kassandra konnte nicht stundenlang nachdenken, Paul erwartete eine Antwort. »Manchmal tut man Dinge, die nicht richtig sind. Man tut sie trotzdem, weil sie getan werden müssen. Weil sie in dieser einen Sekunde, in der man seine Entscheidung zu treffen hat, die einzige Möglichkeit sind und einem vielleicht sogar richtig erscheinen.« Sie hatte sich bisher nicht vom Fleck gerührt, jetzt ging sie auf Paul zu, berührte seine Hand, die noch immer auf der Klinke lag. Einen Wimpernschlag lang dachte sie, er würde sie abschütteln, aber er rührte sich nicht. »Auch wenn wir mit unserem Verdacht richtigliegen sollten â wir kennen Ralfs Motive nicht. Was immer er getan hat«, wiederholte sie, »er liebt Mirko. Jemand, der sein Kind liebt, ob es adoptiert ist oder nicht, wird alles tun, um es zu schützen. Auch das Falsche, sogar bewusst. Wer weiÃ, was dann geschieht? Mit Mirko. Mit Inga. Das kannst du nicht wollen.«
Pauls Augen verdunkelten sich, er schüttelte ihre Hand doch noch ab. »Woher willst du wissen, was ich will? Das ist meine Angelegenheit, misch dich nicht ein!« Er riss die Tür auf und verschwand nach drauÃen.
Kassandra stand reglos da und versuchte zu verkraften, was und vor allem wie er es gesagt hatte. Entschlossen folgte sie ihm in den kalten, allmählich stürmisch werdenden ersten Dezembertag. »Paul!«
Ihr Ruf brachte ihn immerhin dazu zurückzusehen, er war gerade dabei, in den Wagen zu steigen. »Was willst du noch? Hab ich mich unklar ausgedrückt?«
»Glasklar. Du willst nicht, dass ich mich einmische. Aber ich bin schon mittendrin, vergessen? Du kannst mich nicht mehr aussperren, weder von der Gegenwart â noch von der Vergangenheit. Ich weià auch ehrlich gesagt nicht, warum du dir einredest, das tun zu müssen. Anscheinend hat ja nicht mal Heinz groÃe Schwierigkeiten mit deiner Vergangenheit.«
»Heinz?« Wie vor den Kopf geschlagen lehnte er sich gegen den Škoda. Dann verstand er. »Du hast uns vorgestern gehört.«
»Schuldig. Paul ⦠wenn sogar Heinz damit klarkommt, glaubst du nicht, dass ich das ebenfalls kann? Du wirst wohl nicht behaupten, dass er auch nur ansatzweise dasselbe für dich empfindet wie ich.«
Langsam formte sich ein schwaches Lächeln auf seinen Lippen. »Das sollte mich wundern.«
Paul stieà sich vom Wagen ab und streckte die Hand nach Kassandra aus. Sie hatte recht. Mit allem. Mit Ralf, mit seiner eigenen Vergangenheit. Sanft berührte sein Finger ihre Wange. »Bist du sicher, dass du das hören willst?«
Als sie nickte, horchte er noch einmal in sich hinein. Er wusste, es gab kein Zurück mehr, wenn sie es erfuhr, doch schlieÃlich zog er sie zu sich heran, um mit ihr gemeinsam ins Haus zu gehen. Was er erzählen würde, hatte er in seinem Leben erst ein einziges Mal ausgesprochen â und nie vorgehabt, es jemals wieder zu tun.
23
Dezember 1978
In Geschichten von früher liegt an Weihnachten immer Schnee. Ich weià nicht, auf wie viele Weihnachten das tatsächlich zutrifft, aber auf eins ganz sicher: Jeder auf dem Fischland erinnert sich an den Dezember 1978, in dem schon an Heiligabend der Katastrophenfall ausgelöst wurde. Es schneite und schneite und schneite â und kein Ende war in Sicht.
Gut zwei Jahre zuvor war ich aus Bautzen entlassen worden. Ich wohnte zuerst wieder bei meinen Eltern, bis ich ein paar Monate später anderthalb Räume in der Karl-Marx-StraÃe zugewiesen und damit ein Stück Unabhängigkeit bekam. In Zusammenarbeit mit dem Rat der Gemeinde gehörte es auÃerdem zu den Aufgaben des Bürgermeisters, mir Arbeit zu besorgen, man
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