Fischland-Rache
nachts nicht da, wo seine geschätzte Managerin ihn vermutete«, sagte sie stattdessen und erzählte, was sie von Claudia Berghuber erfahren hatte. »Wenn er nicht in seinem Zimmer gewesen ist, kann er an einer halben Million anderer Orte gewesen sein â auch hier. Ich hab keine Ahnung, wie wir rausfinden sollen, ob es so war.«
»Du warst erfolgreicher als ich«, erwiderte Paul. »Immerhin weià ich, welches Hotel die werte Dame meinte â es steht am Lankower See, und Solidaritätsbeiträge sind für dessen Sanierung garantiert nicht verwendet worden. Ich will ohnehin noch mal zu meiner Mutter und könnte dort vorbeifahren, um im Hotel etwas vorzufühlen. Die erinnern sich bestimmt an Clemens.«
»Und deine Mutter?« Kassandra schloss die Haustür auf. Drinnen kam es ihr nach der Sternennacht finster vor.
»Was meinst du?«
»Ich meine, hast du mal an sie gedacht, wenn sie da allein bei Saschas Beerdigung sitzt?«, konnte sich Kassandra nicht verkneifen zu sagen.
Paul, der schon im Begriff gewesen war, seinen Mantel auszuziehen, hielt inne. »Ich gehe besser, bevor wir anfangen zu streiten. Gute Nacht.«
8
Kassandra öffnete die Brötchentüte, um den Korb zu füllen, wobei sie fast ein Mohnbrötchen und ein Hörnchen fallen gelassen hätte, so fahrig waren ihre Bewegungen. Danach verbrannte sie sich beinah beim Eierabschrecken und schaffte es schlieÃlich gerade noch rechtzeitig, den Kaffee für ihre Gäste in die Zwiebelmuster-Kanne zu gieÃen. Sie war unkonzentriert, schwankte zwischen schlechtem Gewissen, weil sie kein Recht hatte, Paul in seine Familienangelegenheiten reinzureden, Ãrger über seinen Abgang gestern und Mitleid für seine Mutter, obwohl sie die bisher nicht kennengelernt hatte.
Nach den Frühstücksvorbereitungen kramte sie Dietrichs Zettel mit der Telefonnummer der Justizvollzugsanstalt Stralsund hervor und beantragte einen Besuchstermin bei Heinz. Der Beamte machte ihr wenig Hoffnung, dass es damit schon morgen klappen würde. Sie hatte gerade aufgelegt, als ihr mit einem Mal etwas einfiel. Sie stand da und starrte aus dem Fenster in ihren Garten, der im Sommer fröhlich bunt vor lauter Blumen, jetzt aber eher trist war â was zu ihrer augenblicklichen Stimmung passte. Sie blinzelte und wandte sich vom Fenster ab, dann wählte sie dieselbe Nummer noch einmal. Mit flauem Gefühl im Magen stellte sie einen weiteren Antrag.
Um sich davon abzulenken, ging sie danach in ihr Büro und lieà den Computer hochfahren. Es fielen zu dieser Jahreszeit nicht viele Verwaltungsarbeiten an, aber um ein bisschen musste sie sich immer kümmern. In ihren Mails fand sie erfreulicherweise zwei Buchungsanfragen, die sie gleich bestätigte. Als sie offline gehen wollte, kam ihr Clemens Meisner wieder in den Sinn â und seine Bemerkung, über ihn sei alles lückenlos im Internet abrufbar. Das wollen wir doch mal sehen, dachte sie und gelangte nach zwei Klicks auf seine Website. Im Hintergrund erklang leise eine ihr unbekannte getragene Orgelsonate, es gab mehrere Rubriken anzuwählen. Sie klickte auf »Biografie« und fand einen ausführlichen Lebenslauf inklusive der Nennung diverser Auszeichnungen, die Clemens Meisner im In- und Ausland erhalten hatte. Alles völlig normal, bis sie zum Jahr 2010 kam. Da hatte es weder Veröffentlichungen noch Preisverleihungen oder Konzerte gegeben. Stattdessen stand dort nur »Kreative Schöpfungsphase in Tasmanien«. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Meisner nie selbst komponiert, im Mai darauf allerdings eine CD in limitierter Auflage mit eigenen Kompositionen herausgebracht. Kassandra suchte in diversen Shops nach der CD , doch sie war schon jetzt, nur einige Monate später, überall als nicht mehr lieferbar gelistet, und selbst bei Internetauktionshäusern landete sie keinen einzigen Treffer. Schöpfungsphase in Tasmanien? Das war natürlich möglich, aber â¦
Mitten in ihren Ãberlegungen hörte sie über den Flur einen Schlüssel in der Haustür. Sie stand auf und ging in die Diele, wo Paul abrupt stehen blieb, als er sie sah.
»Sind deine Gäste versorgt?«, fragte er.
Kassandra nickte.
»Du könntest also mitkommen nach Schwerin?«
Sie wertete das als Friedensangebot und nickte abermals, unsicher, wer eigentlich wem ein Friedensangebot hätte machen müssen. Zehn
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