Fischland-Rache
einen Tee vor sich stehen hatten, zückte Paul sein iPhone, um Dietrich anzurufen. Er tat es ihm gleich und hielt sich nicht lange mit Floskeln auf, sondern kam sofort zum Punkt. »Können Sie gerade reden?«, fragte er. Offenbar fiel die Antwort nicht rundum positiv aus. »Dann nur so viel: Wir haben gefunden, was Sie wollten. Stehen Sie im Telefonbuch? Gut. Wenn Sie nach Hause kommen, liegt eine Fotospeicherkarte in Ihrem Briefkasten. Wir sehen uns morgen.«
Paul kopierte die Bilder, die er in Ingas Wohnung gemacht hatte, von der Speicherkarte auf den internen Speicher der Kamera, entnahm die Karte und wickelte sie sorgfältig in zwei Papierservietten. AnschlieÃend ging er online und suchte Dietrichs Adresse. »FährstraÃe, das ist ja fast nebenan. Hoffen wir, dass die Briefkästen auÃen angebracht sind.«
Vorbei am Rathaus mit seiner beeindruckenden Schaufassade und seinen sieben Schmucktürmchen und der Nikolaikirche, der im Gegensatz dazu skurrilerweise eine Turmspitze fehlte, überquerten sie den Alten Markt in Richtung FährstraÃe. Dort gab es ebenso farbenprächtige Giebelhäuser wie in Stralsunds Hauptgeschäftsader, nur herrschte weitaus weniger Betrieb. Dietrich wohnte in einem dreigeschossigen, dunkelrot verputzten Haus mit kleinen Fenstern im reich geschmückten Giebel. Es stand direkt neben einem schmalen Durchgang in den Hof, sodass man sehen konnte, wie groÃzügig weit nach hinten das Haus gebaut war. Drei Stufen führten zur grün gestrichenen Tür hinauf, aber Pauls Hoffnung erfüllte sich nicht: Es gab keine AuÃenbriefkästen. Kurzerhand drückte Kassandra auf die oberen beiden Klingelknöpfe. Als ein Summen ertönte, stieà sie die schwere Tür auf und brüllte »Pohoost!« durch den Hausflur, was Paul zu einem leisen Schnauben veranlasste.
»Und was für welche«, sagte er leise, während er die Speicherkarte in Dietrichs Briefkasten warf.
In Wustrow setzte Paul Kassandra zu Hause ab und fuhr anschlieÃend weiter nach Schwerin, um seine Mutter abzuholen. Kassandra putzte das Zimmer, in dem Mona übernachtet hatte. Danach rief sie ihre Freundin an und hoffte, dass die ihr Schlüsselbund noch nicht vermisst hatte. Das war tatsächlich nicht der Fall, und Mona fand den Verlust auch nicht tragisch, sondern bat Kassandra nur, die Schlüssel aufzubewahren, bis sie sich das nächste Mal sahen. Wann das sein würde, lieà sie offen, wie sie überhaupt sehr wortkarg war. Auf Kassandras Frage, wie es ihr ging und was sich mit Inga ergeben hatte, antwortete sie nur, dass sie darüber im Moment nicht sprechen, sondern erst mal Abstand gewinnen wolle.
Als Paul mit seiner Mutter kam, schien Margarethe Freese hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, sich in ihr Zimmer zurückzuziehen, und dem, am Vorabend der Beerdigung ihres älteren Sohnes nicht allein zu sein. Sie entschied sich für Letzteres und verbrachte ein paar Stunden damit, über alte und glücklichere Zeiten zu sprechen. Als sie schlieÃlich zu Bett ging, machte sie einen einigermaÃen gefassten Eindruck.
Dietrich meldete sich nicht mehr.
15
War das Wetter gestern noch typisch novembergrau und verregnet gewesen, strahlte heute die Sonne von einem stahlblauen Himmel. Ãber Nacht war die Temperatur um acht Grad gefallen. Die Kälte kam mit einer frischen, rauen Seeluft, als wollte sie alles wegwischen, was geschehen war, und es gemeinsam mit Sascha zu Grabe tragen.
Durch das weiÃe Holzfriedhofstor betraten Paul und Kassandra, Margarethe Freese in ihrer Mitte, die Allee, die quer über den Friedhof führte. Die hohen Bäume reckten ihre nur noch spärlich belaubten Ãste in den weiten Himmel und wirkten wie Riesen, die an diesem Tag etwas Bedrohliches ausstrahlten. Darunter nahm sich die Kapelle aus gelbem Backstein, deren zweiflügelige Pforte weit offen stand, noch kleiner aus, als sie war. Es erschien Kassandra unmöglich, dass all die Menschen, die davor standen und warteten, darin Platz finden konnten, denn wie Paul vermutet hatte, war tatsächlich halb Wustrow auf den Beinen, um Saschas Beisetzung nicht zu verpassen. Die Menge teilte sich, um ihnen den Weg frei zu machen, und obwohl alle still und respektvoll dastanden, schien Margarethe Freese jetzt erst wahrzunehmen, was um sie herum geschah. Sie war in den letzten Stunden in einer Art Schockzustand gewesen. Paul hatte lange mit sanfter
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