Fischland-Rache
an â dünne Lederhandschuhe, die gegen die Kälte im Winter zwar nie halfen, aber jetzt immerhin zu etwas nutze waren.
Sie suchten gründlich und lange. Zwischendurch warf Kassandra immer wieder nervös einen Blick auf die Uhr, und nachdem über eine Stunde vergangen war, ohne dass sie fündig geworden wären, stöhnte sie auf. »Ich fange schon an, dieselben Schränke das zweite Mal durchzusehen. Hier ist nichts.«
»Lass uns tauschen«, meinte Paul. »Guck du da, wo ich schon nachgesehen habe, und umgekehrt.« Damit verschwand er im Schlafraum. Zehn Minuten später, Kassandra durchsuchte gerade die letzte Schublade des Buffets, hörte sie Pauls Stimme. »Kassandra?«
Sie drehte sich um und sah ihn mit zwei prall gefüllten dunkelblauen Pappheftern im Türrahmen lehnen. »Michas Stasi-Akte. Ist normalerweise nicht meine Art, in fremder Schmutzwäsche zu wühlen, aber es lohnt sich anscheinend, mal eine Ausnahme zu machen. Die hier lagen ganz unten im Korb, direkt darüber Klamotten, die seit Jahren aus der Mode sind.«
Kassandra hatte den Schmutzwäschebehälter überhaupt nicht wahrgenommen, der, wie Paul erklärte, hinter der Gardine verborgen gewesen war. »Woher hat sie die? Micha kann sie kaum selbst angefordert und Inga hinterlassen haben.«
Paul legte die beiden Hefter auf den Esstisch mit den kunstvoll gedrechselten Beinen und schlug einen davon auf. »Im Todes- oder Vermisstenfall dürfen auch nahe Angehörige die Akten einsehen«, erklärte er. »Wenn wir noch Zweifel gehabt hätten, dürfte die Tatsache, dass Inga die Akten hat, die endgültige Bestätigung ihrer Identität sein.« Den letzten Satz murmelte er schon halb abwesend vor sich hin, während er zu lesen begann.
Kassandra nahm sich den zweiten Ordner vor. Quer über die Seiten liefen groÃe rote Stempel der Stasi-Unterlagen-Behörde mit der Aufschrift »Kopie BS t U « oder in kleiner einfach nur »Kopie«. Der Teil, den Kassandra in den Händen hielt, befasste sich mit dem Zeitraum, in dem Paul und die anderen mit ihrem Piratensender beschäftigt gewesen waren. IM  Dzierzynski beziehungsweise Sascha war ein sehr fleiÃiger Informant gewesen. Er hatte nicht nur Paul bespitzelt, sondern auch Micha, für ihn sicher eine praktische Lösung. Er und Micha mussten zur selben Zeit an der Seefahrtschule studiert haben. Wie in Pauls Akte wurde auch hier offenbar, dass Dzierzynskis Hinweise zur Verhaftung der Jungs geführt hatten. Jemand hatte mit blauem Kugelschreiber diverse Male den Namen »Dzierzynski« eingekreist und » S . F .« oder » S . Freese« an den Rand geschrieben, offenbar in groÃer Wut, das Papier war an diesen Stellen teilweise durchbohrt. Inga beschriftete ihre Tagesgerichttafeln grundsätzlich selbst, und Kassandra glaubte zumindest, ihre Handschrift wiederzuerkennen.
Mit einem Mal hörte sie Schritte im Treppenhaus. Sie erstarrte und sah zu Paul, doch der war so in den anderen Teil von Michas Akte vertieft, dass er nichts davon mitbekam. Kassandras Hände begannen zu zittern, als sich die Schritte der Wohnungstür näherten, doch die Person ging an der Tür vorbei ins nächste Stockwerk, und Kassandra sackte zusammen. Sie stützte sich auf dem Tisch ab und stieà einen Seufzer aus. Nicht mal das bemerkte Paul, der sich auf einen der Stühle gesetzt hatte.
Kassandra schloss ihren Papphefter und beugte sich über Pauls. Als ihr Schatten auf die Seiten fiel, blickte Paul endlich auf, sie erschrak über den Ausdruck in seinen Augen.
»Was hat Sascha noch getan?«, fragte sie.
»Michas Fluchtpläne verraten. Micha ist zweimal wegen Sascha in Bautzen gelandet â und gestorben.«
Daraufhin musste auch Kassandra sich setzen. »Wie konnte das gehen? Sascha war doch zu der Zeit sicher ganz woanders.«
»Eben nicht. Nach seinem Studium hat er als Diplom-Ingenieur bei den Elbewerften in Boizenburg gearbeitet. Dahin hatte es offenbar auch Micha verschlagen. Ich erinnere mich, dass er mal erzählt hat, Verwandtschaft in Boizenburg zu haben. Das traf sich ja ganz gut, es wurde immer gern gesehen, wenn jemand nach einem Gefängnisaufenthalt eine Anlaufstelle hatte. AuÃerdem passte seine Tätigkeit als Arbeiter in der Werkstoffprüfung dort zu seiner angefangenen Ausbildung. Wenn es auch beileibe nicht das war, was er sich mal
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