Fischland-Rache
darüber zu verlieren.
Heinz, mein Liebster, ich habe gelogen, als ich sagte, ich hätte unser Kind durch einen Sturz von der Treppe verloren. Ich habe gelogen, weil das, was wirklich passierte, so entsetzlich war, dass ich es vergessen wollte, auch wenn ich es nie vergessen konnte. Und vor allem habe ich gelogen, weil ich Angst hatte, Du könntest etwas tun, was nicht weniger entsetzlich wäre, und ich wollte doch nicht auch noch Dich verlieren.
All das ist so lange her, vielleicht hätte ich es für mich behalten sollen. Vielleicht werde ich diesen Brief verbrennen, sobald ich ihn beendet und mir alles von der Seele geschrieben habe. Vielleicht ist das das Beste. Vielleicht â¦
Ich habe Dich bis auf dieses eine Mal nie belogen â vielleicht fällt es mir deshalb so schwer, mit dieser einen Lüge zu gehen. Falls ich das nicht schaffen sollte: Verzeih.
Ich liebe Dich.
Karin
Wie betäubt lieà Kassandra den Brief auf ihren Schoà sinken. Sie saà nur da und konnte zuerst keinen klaren Gedanken fassen. Die Trauer kroch in ihr hoch und anschlieÃend die Wut. Karin und Heinz hatten nie Kinder bekommen â eine Folge der Ereignisse in jenem Herbst?
Neben der Trauer und der Wut machte sich noch etwas in ihr breit: Abscheu. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals jemanden dermaÃen verabscheut zu haben wie Sascha Freese. Wie konnte ein einzelner Mann so viel Leid über so viele Menschen bringen? Kein psychopathischer Serienmörder, kein ausgerasteter Amokläufer, kein Terrorist, kein machtbesessener Staatschef â ein vermeintlich ganz normaler Mann, der klassische Musik geliebt und als Kind Kosmonaut hatte werden wollen.
Mit zittrigen Fingern faltete Kassandra den Brief wieder zusammen und legte ihn sorgsam zurück in das Buch. Sie hätte gern geglaubt, dass Karin ihn dort versteckt und Heinz ihn nie gelesen hatte, aber das Blatt war abgegriffen, es fiel von selbst in die Knicke zurück. Heinz hatte diesen Brief sehr oft gelesen.
Zum ersten Mal erlaubte sich Kassandra, seine Schuld ernsthaft in Erwägung zu ziehen â etwas, was ihr zuvor nie in den Sinn gekommen war, nicht mal, als sie Dietrich gegenüber den Advokat des Teufels gespielt hatte. Mit diesem glasklaren und sehr nachvollziehbaren Motiv vor Augen, seiner Reaktion auf Saschas Anwesenheit in Wustrow und dem Umstand, dass Heinz selbst die Tat in keiner Weise abstritt, schien die Möglichkeit mit einem Mal erschreckend greifbar. Trotz aller Gegenargumente, die sie, Paul und Dietrich gesucht und gefunden hatten, trotz Ingas ebenso starkem Motiv und trotz Clemens Meisners sehr verdächtigem Verhalten: Nur bei Heinz passte alles zusammen â er hatte die Waffe, die Gelegenheit und das Motiv.
Es war schon dunkel, als Kassandra Pauls Haustür aufschloss. Eine halbe Stunde zuvor hatte sie Aitmatows Novelle zurück ins Regal gestellt und versucht, ein paar Bücher für Heinz zusammenzusuchen, was ihr nicht gelungen war, weil ihre Gedanken ständig zu Karin zurückgekehrt waren. Sie hatte aufgegeben und sich auf den Weg hierher gemacht.
Paul saà vor seinem Notebook und bearbeitete die über die letzten Tage liegen gebliebenen Mails, was ein so vollkommen normaler Anblick war, dass es geradezu unpassend schien. Er schaute hoch, doch sein Lächeln erstarb, als er ihren Gesichtsausdruck sah.
»Warâs so schlimm in Stralsund?«, fragte er, kam zu ihr und drückte sie sanft aufs Sofa. Da klingelte das Telefon. Paul verharrte.
»Willst du nicht rangehen?«
»Wird schon nicht so wichtig sein. Was ist los?«
Kassandras Nerven lagen ohnehin blank, und das andauernde Läuten des Telefons tat ein Ãbriges. Aus einem Impuls heraus hätte sie das Ding am liebsten an die Wand geschleudert, nur damit es endlich Ruhe gab. »Du gehst besser doch ran«, sagte sie stattdessen angestrengt.
Zweifellos ahnte Paul, dass es besser war, wenn er tat, was sie sagte. Das Gespräch mit seiner Agentin zog sich hin, worüber Kassandra dankbarer war, je länger es dauerte. Sie merkte, dass sie aufgrund der Normalität, die sie eben noch verflucht hatte, gerade anfing, sich zu entspannen. Nach einiger Zeit begann sogar ihr Magen zu knurren, was sie überhaupt nicht für möglich gehalten hätte, obwohl sie seit dem spärlichen und eher traurigen Frühstück mit Margarethe Freese nichts mehr gegessen hatte. Sie erhob sich und kramte aus
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