Fischland-Rache
weil Karin die Schwester ihrer Mutter gewesen war und sie so wenig über ihre Familie wusste. Vorsichtig strich sie über den Einband, da fiel etwas aus dem dünnen Büchlein heraus. Sie bückte sich und hob ein gefaltetes, eng beschriebenes Blatt vom Boden auf. Es war ein Brief, der in einer ihr fremden Schrift mit den Worten Mein Leben, meine Liebe â Heinz begann. Da das Buch Karin gehört hatte, war vermutlich sie die Verfasserin. Kassandra wollte das Blatt schon zurücklegen, als ihr Blick auf einen Namen fiel, der sie innehalten lieÃ.
Hin- und hergerissen stand sie mit dem Brief in der einen und dem Buch in der anderen Hand vor dem Bücherregal. Karins Zeilen, die kurz vor ihrem Tod datiert waren, gingen nur Heinz und seine Frau etwas an, und es gab Dinge, in die man seine Nase besser nicht steckte. Lass es sein , hatte Heinz gesagt. Mehrmals. Aber wenn sie den Brief unbeachtet lieÃ, würde sie sich immer fragen, ob der Inhalt ihm hätte helfen können. Mit wackeligen Knien setzte sie sich in einen Sessel am Fenster. Die Sonne, die auch heute unverdrossen am Himmel stand, schien ihr warm auf die Schultern. Dennoch fröstelte sie, als sie das Blatt auseinanderfaltete und nach einem letzten tiefen Atemzug zu lesen begann.
Mein Leben, meine Liebe â Heinz,
wenn ich die Augen schlieÃe, sehe ich mich am Tag unserer Hochzeit am Strand stehen. Erinnerst Du Dich? Du hast mich von Weitem beobachtet und wusstest ganz sicher, was in mir vorging. Beinah hätte ich einen Rückzieher gemacht und auf Paul gewartet, statt Dich zu heiraten. Ich habe Dir nie gesagt, wie unendlich froh ich bin, zu feige dazu gewesen zu sein â und wie dankbar, dass Du niemals auch nur ein einziges Wort über meine Zweifel verloren, sondern mich einfach nur geliebt hast.
Dein Schweigen darüber hat mich Deiner Liebe immer wieder aufs Neue versichert. Manchmal ist Schweigen also besser â und vielleicht sollte ich meines nach so langer Zeit nicht brechen. Aber ich will nicht mit einer Lüge gehen, und ich hoffe, Du kannst mir verzeihen. Meine Lüge damals, mein langes Schweigen â und die Wahrheit jetzt.
In jenem Herbst warst Du wegen Deines Leistenbruchs im Krankenhaus, und ich bin allein zu Barbaras Geburtstagsfeier gegangen, um mich abzulenken. Nach ein paar Stunden boten sich gleich zwei Männer an, mich nach Hause zu bringen. Den jungen Mann mit den blonden Haaren kannte ich nicht, ich wusste nicht mal seinen Namen, nur dass er bei irgendwem zu Besuch war. Er ging ein kurzes Stück mit, dann wurde ihm schlecht. Er hatte den Alkohol nicht vertragen, musste sich übergeben und schickte uns weg, sodass ich mit Sascha allein weiterging. Ich hatte Sascha nie gemocht, auch nicht, als ich noch mit Paul zusammen war, mir war schon immer unwohl in seiner Gegenwart gewesen. Ich hätte seine Begleitung ablehnen sollen, aber ich wollte nicht unfreundlich sein und dachte: In zehn Minuten bist du ihn sowieso los. Da fing er von Paul an und von Dir und meinte, Du wärst erst recht kein Mann für mich. Genau wie der Junge mit den blonden Haaren hatte Sascha getrunken, deshalb habe ich seine Annäherungsversuche zuerst nicht ernst genommen. Als ich endlich begriff, dass er mich nicht in Ruhe lassen würde, versuchte ich wegzulaufen, aber er hielt mich fest, ich kam nicht dagegen an. SchlieÃlich zerrte er mich zwischen die Bäume im Park.
Ich will schreien, doch die Panik schnürt mir die Kehle zu, ich kann kaum krächzen und ihn anflehen, mich loszulassen. Ich glaube, er hört mich gar nicht, er wirft mich zu Boden, ich lande auf einem Stein oder einem Baumstumpf â und spüre etwas in mir zerbrechen, ein unglaublicher Schmerz durchfährt mich, mir wird schwarz vor Augen.
Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist Sascha über mir, auf mir, in mir, sein Körper schwer, seine Hände brutal und seine Stimme atemlos: »Siehst du, Paul, ich krieg sie. Nicht du. Ich krieg sie.«
Dann ist da wieder Schwärze, und schlieÃlich der blonde Junge, der neben mir kniet und mich entsetzt ansieht. Er stammelt, wie leid es ihm tut, dass er zu spät gekommen ist, er fragt, wer es war, ich sage nichts, aber ich sehe ihm an, dass er es errät, er weià ja, wer bei mir war. Er will mit mir zur Polizei. Ich will das nicht, ich will nicht, dass Du es erfährst, ich will nur nach Hause, ich lasse ihn schwören, nie ein Wort
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