Fitz der Weitseher 01 - Der Weitseher
Tee war reichlich mit Ingwer und Pfefferminz versetzt, um den herben Geschmack der Elfenrinde zu überdecken.
Veritas ließ den Blick über das Tablett wandern, dann schaute er mich prüfend an. »Chade gibt niemals auf, nicht wahr?« Dies äußerte er in einem so beiläufigen Ton, als wäre die Erwähnung von Chades Namen nichts Ungewöhnliches.
»Ihr müsst essen, wenn Ihr bei Kräften bleiben wollt«, meinte ich nüchtern.
»Wahrscheinlich.« Müde widmete er sich den Tellern und Schüsseln, als wären die liebevoll angerichteten Speisen eine weitere Pflicht, die er zu erfüllen hatte. Er aß ohne große Lust und trank den Tee mannhaft auf einen Zug herunter, ohne sich von dem Ingwer oder der Minze täuschen zu lassen. Zwischendurch legte er eine Pause ein und starrte eine Weile abwesend aus dem Fenster, doch dann, als er wieder aus seiner Versunkenheit in die Gegenwart zurückgekehrt war, zwang er sich alles aufzuessen, was ich ihm gebracht hatte. Anschließend lehnte er sich scheinbar erschöpft zurück. Ich war ziemlich erstaunt. Da ich den Tee selbst zubereitet hatte, wusste ich, dass ein normaler Mensch bei dieser Dosis Elfenrinde die Wände hochgegangen wäre.
»Mein Prinz?«, fragte ich zögerlich. Als er sich nicht regte, berührte ich ihn leicht an der Schulter. »Prinz Veritas? Fühlt Ihr Euch nicht wohl?«
»Veritas«, wiederholte er gedankenverloren. »Ja. Veritas, sprich das am besten ohne jeglichen Beinamen wie ›Prinz‹, ohne ›Herr‹ oder ›Hoheit‹ aus. Mein Vater hat sich wieder einmal seines Namens würdig erwiesen, gerade dich zu mir zu schicken. Nun ja. Vielleicht gelingt es mir noch, ihn zu überraschen. Jedenfalls wünsche ich, dass du mich einfach Veritas nennst. Und sag ihnen, ich hätte gegessen. Gehorsam wie immer hätte ich meinen Teller leergegessen. Jetzt geh, Junge. Ich habe zu arbeiten.«
In sichtbarer Willensanstrengung raffte er sich auf, um seinen Blick wieder in die Ferne schweifen zu lassen. So leise wie möglich stapelte ich das Geschirr auf dem Tablett zusammen und ging zur Tür. Doch als ich die Klinke niederdrückte, richtete er noch einmal das Wort an mich.
»Junge?«
»Ja, Herr?«
»Aha! - Was habe ich dir befohlen, wie sollst du mich anreden?«
»Ja, Veritas?«
»Leon ist in meinen Gemächern, Junge. Sorg dafür, dass er etwas Auslauf hat, ja? Er kümmert vor sich hin. Und schließlich ist es unnötig, dass wir beide zu Stubenhockern verkommen.«
»Ja, Herr. Veritas.«
Auf diese Weise kam der alte Jagdhund, der mittlerweile über seine besten Jahre hinaus war, in meine Obhut. Jeden Tag holte ich ihn aus Veritas’ Gemächern, und wir jagten zwischen den Hügeln und den Klippen und längs der Küste nach Wölfen, die es dort seit Jahrzehnten nicht mehr gab. So wie Chade es mir auf den Kopf zu gesagt hatte: Meine Kondition war miserabel und anfangs fiel es mir schwer, mit dem alten Hund Schritt zu halten. Doch nach und nach kamen wir beide wieder in Form,
und Leon fing sogar ein oder zwei Kaninchen für mich. Da ich nicht länger Burrichs Befehlsgewalt unterworfen war, hatte ich auch keinerlei Skrupel, von der alten Macht Gebrauch zu machen, doch wie ich es mir fast gedacht hatte, konnte ich zwar mit Leon kommunizieren, doch es ließ sich kein Band zwischen uns herstellen. Er hörte nicht immer auf mich, und manchmal stellte er sich einfach taub. Wäre er noch ein Welpe gewesen, hätte ich ihn vielleicht an mich binden können, doch er war alt und sein Herz gehörte Veritas. Die Macht gewährte einem nicht Herrschaft über Tiere, sondern nur einen Einblick in ihr Dasein.
Jeden Tag stieg ich dreimal die steile Wendeltreppe hoch, um Veritas zum Essen zu überreden und ihm ein paar Worte zu entlocken. An manchen Tagen war es, als spräche man zu einem Kind oder einem senilen Greis, dann wieder erkundigte er sich nach Leon und den Vorgängen in Burgstadt. Manchmal hielten meine anderen »Geschäfte« mich einige Tage von Bocksburg fern. Meistens schien er keine Notiz davon zu nehmen, doch einmal, nach einem Handgemenge, bei dem ich die Messerwunde erhielt, fühlte ich seinen Blick auf mir ruhen, als ich unbeholfen das Geschirr zusammenstellte. »Wie sie sich ins Fäustchen lachen würden, wenn sie wüssten, dass wir so weit gekommen sind, unsere eigenen Landsleute zu ermorden.«
Ich erstarrte und überlegte fieberhaft, was ich darauf erwidern sollte, denn meines Wissens war das Geheimnis meiner mörderischen Missionen nur drei Menschen bekannt -
Weitere Kostenlose Bücher