Fitz der Weitseher 01 - Der Weitseher
Galen nicht.«
»Wie ist er dann Gabenmeister geworden?«, fragte ich. Ob Veritas mir das nur erzählte, um mir über die Schande meines Versagens hinwegzuhelfen?
Veritas zögerte, als suchte er nach einem Weg, um ein heikles Thema anzugehen. »Galen war Königin Desiderias … Liebling. Ein Günstling. Durch ihre Protektion wurde Galen Lehrling bei Solizitas. Oft glaube ich, unsere alte Gabenmeisterin muss verzweifelt gewesen sein, ihn überhaupt als Nachfolger in Betracht ziehen zu müssen. Doch Solizitas wusste schon damals, dass sie bald sterben würde. Ich glaube, sie handelte übereilt und bereute später noch ihre Entscheidung. Meiner Meinung nach war seine Ausbildung außerdem längst noch nicht abgeschlossen, als er ›Meister‹ wurde. Aber so ist es nun einmal, wir müssen uns mit ihm abfinden.«
Veritas räusperte sich, er schien nicht recht zu wissen, wie er fortfahren sollte. »Galen bekam dieses Amt als fette Pfründe,
und nicht etwa, weil er dessen würdig war. Ich bezweifle, dass er je wirklich begriffen hat, was es heißt, Gabenmeister zu sein. Oh, er weiß, das Amt bedeutet Macht, und er hat auch keine Hemmungen sie auszuüben. Doch Solizitas hatte sich nie damit begnügt, nur auf dem hohen Ross zu sitzen und die Annehmlichkeiten einer hervorragenden Stellung bei Hofe zu genießen. Sie stand Wohlgesinnt als Ratgeberin zur Seite und war Vermittlerin zwischen dem König und allen, die für ihn die Gabe ausübten. Sie machte sich zur Aufgabe, jeden zu berufen und auszubilden, der wirkliches Talent, gepaart mit einem verantwortungsvollen Charakter, erkennen ließ. Dieser Zirkel ist der erste, den Galen ausgebildet hat, seit Chivalric und ich Kinder waren. Und ich bin mit dieser Ausbildung nicht zufrieden. Nein, seine Schüler haben die Gabe nur so beigebracht bekommen, wie Affen und Papageien lernen, Gebärden oder Sprache des Menschen nachzuahmen, ohne zu verstehen, was sie tun. Aber nun sind sie alles, worauf ich mich stützen kann.« Veritas richtete den Blick aus dem Fenster. »Galen besitzt kein Feingefühl. Er ist ebenso grobschlächtig, wie seine Mutter es war - und ebenso anmaßend.« Veritas verstummte, und seine Wangen röteten sich, als hätte er etwas Unüberlegtes gesagt. In ruhigerem Ton fuhr er fort: »Die Gabe ist wie eine Sprache, Junge. Ich brauche nicht zu schreien, um mich dir verständlich zu machen. Ich kann höflich bitten, dir Andeutungen machen oder dir mit einem Nicken und einem Lächeln meinen Wunsch übermitteln. Ich kann mittels der Gabe einen Menschen beeinflussen, ohne dass er es merkt, während er fest daran glaubt, seinen eigenen Eingebungen zu folgen. Doch solche Feinheiten entziehen sich Galens Verständnis, sowohl in der Ausübung als auch in der Unterrichtung der Gabe. Er vermag es nur, sich mit Gewalt den
Zugang zu den Menschen zu verschaffen. Vereinzelung und Schmerz sind nur ein Weg, um die Abwehrkräfte eines Menschen zu durchbrechen, aber sie sind der einzige Weg, an den Galen glaubt. Solizitas hingegen bediente sich der List. So trug sie mir einmal auf, den Flug eines Milans zu beobachten oder ein andermal ein Staubkorn zu verfolgen, das in einem Sonnenstrahl tanzte, und meine ganze Aufmerksamkeit darauf zu richten, als gäbe es nichts sonst in der Welt. Und plötzlich war sie in meinem Bewusstsein, lächelte mich von dort aus an und war des Lobes voll. Sie lehrte mich die einfache Wahrheit, dass offen zu sein schlicht bedeutete, sich nicht zu verschließen. Um in das Bewusstsein eines anderen Menschen einzudringen, gehört in erster Linie die Bereitschaft, aus dem eigenen Bewusstsein herauszutreten. Verstehst du, was ich meine?«
»Einigermaßen.« Ich wand mich, denn wie konnte ich zugeben, dass mir schlicht der Kopf schwirrte?
»Einigermaßen.« Er seufzte. »Ich könnte dich die Gabe lehren, hätte ich nur die Zeit, die ich nicht habe. Aber sag mir eins - hast du gute Fortschritte gemacht, bevor er dich prüfte?«
»Nein. Ich hatte nie die Fähigkeit zu … - Halt! Das stimmt nicht. Was sage ich da, was habe ich mir eingeredet?« Alles schien sich plötzlich wie wild um mich zu drehen. Veritas streckte die Hand aus und hielt mich fest.
»Ich vermute, ich war zu hastig. Langsam, Junge, langsam. Jemand hat dich aus dem Konzept gebracht. Dich schlicht verwirrt, nicht viel anders, als ich es mit den Navigatoren und Steuerleuten der Roten Korsaren tue. So wie ich sie überzeuge, dass sie bereits in sicheren Fahrwassern und auf Kurs sind, während ihr
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