Fitz der Weitseher 01 - Der Weitseher
vorsichtig zu sein. Lass die Wurzel nicht herumliegen, wo ein Kind sie erreichen könnte.«
»Vielen Dank. Ich werde aufpassen. Interessierst du dich für Kräuter und Pflanzen? Ich wusste nicht, dass ein Schreiber sich mit solchen Dingen befasst.«
Plötzlich wurde mir bewusst, dass sie mich für den Famulus des Schreibers hielt, und ich sah keinen Grund, sie eines Besseren zu belehren. »Oh, Fedwren benutzt die verschiedensten Zutaten für seine Tuschen und Tinten. Von manchen Schriften macht er nur schlichte Kopien, aber andere sind reich verziert mit Vögeln, Katzen, Schildkröten und Fischen. Er hat mir ein Pflanzenbuch gezeigt, worin Zeichnungen von Blättern und Blüten eines jeden Krauts den Text umrahmten.«
»Das würde ich furchtbar gerne sehen«, meinte sie sehnsüchtig, und sofort begann ich nachzudenken, ob es sich vielleicht bewerkstelligen ließ, das Buch für kurze Zeit auszuborgen.
»Vielleicht gelingt es mir, dir eine Kopie zu beschaffen - keine zum Behalten, aber eine, die du für zwei, drei Tage studieren kannst«, bot ich ihr zögernd an.
Sie lachte auf, das aber mit einem bitteren Unterton. »Als ob ich lesen könnte!? - Du dagegen hast als Gehilfe eines Schreibers wahrscheinlich ein paar Buchstaben aufschnappen können.«
»Ein paar«, gab ich zu und war überrascht von dem Neid in ihren Augen, als ich ihr meine Einkaufsliste zeigte und gestand, dass ich alle sieben Worte darauf lesen konnte.
Von einem Moment zum anderen wirkte sie wie eingeschüchtert. Ihre Schritte stockten, und ich merkte, dass wir uns dem Laden näherten. Ob ihr Vater sie wohl immer noch schlug? Ich wagte nicht zu fragen. In ihrem Gesicht waren jedenfalls keine Spuren von Misshandlungen zu entdecken. Vor der Ladentür blieben wir stehen. Sie schien sich zu einem Entschluss durchgerungen zu haben, denn sie legte mir die Hand auf den Arm, holte tief Luft und fragte dann: »Wenn ich dir etwas Geschriebenes gebe, würdest du es mir vorlesen? Soweit du es kannst?«
»Ich will es gerne versuchen.«
»Als ich … - seit ich angefangen habe, Röcke zu tragen, hat mir mein Vater die Hinterlassenschaften meiner Mutter gegeben. Meine Mutter war einst als Mädchen Zofe bei einer vornehmen Dame oben auf der Burg, und sie durfte Schreiben lernen. Ich habe einige Tafeln, die von ihr stammen, und ich möchte wissen, was darauf zu lesen steht.«
»Ich will es versuchen«, bekräftigte ich.
»Mein Vater ist im Laden.« Weiter sagte sie nichts, aber das folgende kurze Ringen zwischen ihrem und meinem Bewusstsein, besagte mir fast alles.
»Ich soll für Schreiber Fedwren zwei Bienenwachskerzen kaufen«, erinnerte ich sie. »Ich darf mich nicht ohne sie bei ihm blicken lassen.«
»Tu so, als würden wir uns nur flüchtig kennen«, warnte sie mich, bevor sie hineinging.
Ich folgte ihr, aber langsam, als hätte der Zufall uns an der Tür zusammengeführt. Die Vorsicht erwies sich als überflüssig, denn
ihr Vater schlief in einem Sessel neben dem Herd. Ich erschrak über sein Aussehen. Er wirkte ausgemergelt, sein Gesicht erinnerte mich an den eingesunkenen Teig einer Pastete mit einer klumpigen Obstfüllung. Ich hatte meine Lektion bei Chade gelernt. Ein Blick auf Fingernägel und Lippen des Mannes verriet mir, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Vielleicht schlug er Molly deshalb nicht mehr, weil ihm die Kraft fehlte. Molly machte mir ein Zeichen, mich leise zu verhalten. Sie verschwand hinter den Vorhängen, die Wohnung und Laden trennten, und ich hatte Muße, mich in dem Laden umzusehen.
Er war nicht groß, aber höher als die meisten Behausungen von Burgstadt. Es lag wohl an Mollys Fleiß, dass er so reinlich und aufgeräumt war. Die aromatischen Gerüche und das weiche Licht ihrer Bemühungen erfüllten den Raum. Ihre Ware hing wohl schön ausgestellt und paarweise an den verbundenen Dochten an langen Holzpflöcken herab. Einfache, dicke Kerzen für den Gebrauch auf Schiffen füllten ein weiteres Regal. Zu ihrem Sortiment gehörten sogar drei glasierte Tonlampen für Kunden, die sich etwas mehr und Besseres leisten konnten. Zusätzlich zu den Kerzen verkaufte sie Honig, ein Nebenerzeugnis der Bienenstöcke hinter dem Haus, die hauptsächlich das Wachs für ihre feinste Kerzenware lieferten.
Endlich kam Molly wieder zum Vorschein und winkte mich zu sich. Sie stellte einen Leuchter auf den Tresen, legte einen Stapel Schreibtafeln daneben, trat einen Schritt zurück und presste die Lippen zusammen, als hätte sie
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