Fitz der Weitseher 01 - Der Weitseher
etwas zustößt«, rief ich entsetzt und stürzte auf ihn zu.
Edel gab einen unmerklichen Schrei von sich, woraufhin Veritas sich vor Lachen fast über ihn ausschüttete. »Du hast ihn für einen Geist gehalten, genau wie ich. Hoppla, Junge, du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt, einfach nur so still dazustehen. Dabei bist du ihm wie aus dem Gesicht geschnitten - oder was meinst du, Edel?«
»Dass du ein Dummkopf bist, Bruderherz. Halt den Mund.« Edel zog ärgerlich an den Zügeln und rückte dann sein Lederwams zurecht. »Was treibst du so spät auf der Straße, Bastard? Um diese Stunde heimlich in die Stadt zu schleichen, das kann doch nur bedeuten, dass du wieder etwas ausgeheckt hast.«
Ich war an Edels Ablehnung mir gegenüber gewöhnt, aber dass er mich so angriff, hatte ich noch nicht erlebt. Im Allgemeinen begnügte er sich damit, mir aus dem Weg zu gehen oder einen weiten Bogen um mich zu machen, als wäre ich ein frisch
aufgehäufter Misthaufen. Wohl oder übel musste ich mich nun hier verteidigen. »Ich war in der Stadt, Herr, und bin jetzt auf dem Weg zurück zur Burg. Fedwren hat mich geschickt, Besorgungen für ihn zu machen.« Zum Beweis der Wahrheit meiner Worte hielt ich den Korb hoch.
»Aber gewiss doch.« Edel verzog höhnisch den Mund. »Ein schönes Märchen. Meinst du nicht auch, das wäre als Zufall etwas zu viel des Guten, Bastard?« Wieder schleuderte er mir seine Worte buchstäblich entgegen.
Ich muss sowohl verletzt als auch verwirrt gewirkt haben, denn Veritas schnaufte auf seine gutmütige Art und sagte: »Nimm’s ihm nicht übel, Junge. Uns beiden ist bei deinem Anblick einfach unheimlich geworden. Vorhin ist ein Binnensegler eingelaufen und hatte am Mast den Wimpel zu einer besonderen Botschaft gesetzt. Und als Edel und ich hinunterreiten, um sie in Empfang zu nehmen, stellt sich heraus, dass die Botschaft von Philia stammt, die uns von Chivalrics Tod unterrichtet. Als wir dann die Straße hinaufkommen, was müssen wir plötzlich sehen?- nichts weniger als das genaue, jugendliche Ebenbild Chivalrics! Und in der Verfassung, in der wir waren …«
»Was für ein verdammter Idiot du nur bist, Veritas«, fauchte Edel ihn an. »Trompete nur alles heraus, damit die ganze Stadt darüber Bescheid weiß, bevor wir dem König die Nachricht gebracht haben. Und setz dem Bastard nur keine Flausen in den Kopf, dass er aussieht wie Chivalric. Nach allem, was ich höre, bildet er sich ohnehin schon genügend Schwachsinn ein, dank unseres verehrten Herrn Vaters. Komm schon. Wir haben noch eine traurige Pflicht zu erfüllen.«
Edel riss seinem Pferd mit den Zügeln heftig den Kopf hoch und versetzte ihm mit den Sporen einen Hieb in die Flanken.
Ich sah ihm nach, und ich schwöre, mein einziger Gedanke war, nachher im Stall dem armen Tier einen Besuch abzustatten und zu sehen, wie böse sein Maul zerschunden war. Doch irgendetwas bewegte mich dazu, gleichzeitig zu Veritas aufzuschauen und zu sagen: »Mein Vater ist tot.«
Veritas saß regungslos auf seinem Pferd. Obwohl er größer und vierschrötiger war als Edel, machte er im Sattel eine ungleich bessere Figur. Schweigend sah er mich eine Weile an, dann sagte er: »Ja. Mein Bruder ist tot.« In diesem Augenblick gewährte er, mein Onkel, eine so große Verbundenheit, dass diese für immer mein Bild von diesem Mann prägte. »Steig hinter mir auf, Junge, und ich nehme dich mit zurück zur Burg«, bot er mir an.
»Ich danke Euch, doch das lieber nicht. Burrich würde mir die Haut abziehen, wenn ich auf dieser Straße einem Pferd zusätzliche Belastung zumuten wollte.«
»Du hast Recht, das würde er.« Veritas grinste freundlich. Er ordnete die Zügel. »Tut mir leid, dass du es auf diese Art erfahren musstest. Ich war unüberlegt. Mir selbst kommt es noch immer ganz unfassbar vor.«
Flüchtig las ich den brüderlichen Schmerz in seinem Gesicht, dann beugte er sich vor, sprach zu seinem Pferd, worauf es zu einem schnellen Galopp ansetzte. So befand ich mich bald wieder allein auf der Straße.
Ein dünner Nieselregen setzte ein, das letzte Tageslicht verblasste, und immer noch verharrte ich auf demselben Fleck. Ich sah zur Burg hinauf, wie sie schwarz vor dem Sternenhimmel aufragte. Nur hie und da fiel etwas Licht aus einem Fenster oder einer Schießscharte. Einen Moment lang war ich versucht, meinen Korb hinzustellen und einfach wegzulaufen, in die Dunkelheit
zu fliehen und nie mehr zurückzukehren. Ob sich wohl überhaupt
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