Fitz der Weitseher 03 - Der Nachtmagier
sollte ich aus mir hinausdenken, wenn ich nicht meine Barrieren senkte. Mir Veritas vorzustellen blieb zwecklos, bis ich mein Bewusstsein entscheidend öffnete - für mich einen Weg hinaus, für ihn einen Weg hinein. Nun gut. Das war leicht. Einfach entspannen. In die Flammen schauen und die winzigen Funken beobachten, die mit der Hitze nach oben stiegen. Tanzende Fünkchen. Die Zügel lockerlassen. Vergessen, wie damals Will mit seiner Gabe an diesen Mauern gerüttelt und sie beinahe zum Einsturz gebracht hatte. Vergessen, dass nur diese Mauern meinen Verstand und mein Ich geschützt hatten, als ihre Fäuste auf meinen geschundenen Körper einprügelten. Ich musste das widerwärtige Gefühl, vergewaltigt worden zu sein, vergessen, als damals Justin in mich eingedrungen war. Und ich musste vor allem Galen vergessen, der seine Stellung als Gabenmeister missbraucht hatte, um mein Talent auszumerzen und mich zu zerbrechen.
So deutlich, als stünde er neben mir, hörte ich Veritas sagen: »Galen hat dich verletzt. Du hast zu deinem Schutz Mauern errichtet, die ich nicht zu überwinden vermag, obwohl ich stark bin. Du musst lernen, dich zu öffnen. Das ist schwer.« Und diese Worte wurden vor Jahren gesprochen, ehe ich von Justin und Will erfuhr, was mit der Gabe möglich war. Ich lächelte bitter. Wussten sie, dass es ihnen gelungen war, meine Gabe lahmzulegen? Wahrscheinlich hatten sie nie einen Gedanken daran verschwendet. Jemand sollte sich die Mühe machen, das alles aufzuschreiben. Vielleicht kommt es einem zukünftigen König irgendwann einmal gelegen zu wissen, wie man das Talent eines Gabenkundigen wie eine Waffe gegen sich selbst richten und ihn damit so schwer verwunden konnte, dass er hinter seinen Schutzwällen eingeschlossen war wie in einem Gefängnis und damit keine Gefahr mehr darstellte.
Veritas hatte nie Zeit gehabt, mir beizubringen, wie ich es anstellen sollte, diese Mauern durchlässig zu machen - im Gegenteil: er hatte mir nur gezeigt, wie ich sie noch weiter verstärken konnte, um mich gegen ihn abzuschotten, wenn ich meine Gedanken nicht teilen wollte. Vielleicht hatte ich diese Lektion zu gründlich gelernt. Ich fragte mich, ob ich je Zeit haben würde, das Gelernte wieder zu vergessen.
Zeit, keine Zeit, unterbrach mich Nachtauge müde. Zeit ist ein Ding, das die Menschen erfunden haben, um sich damit das Leben schwerzumachen. Du grübelst darüber nach, bis mir der Kopf schwirrt. Weshalb folgst du dieser alten Fährte? Nimm eine frische auf, an deren Ende du vielleicht etwas Fleisch findest. Wenn du Beute machen willst, musst du jagen. So ist es. Du kannst nicht sagen: Das Jagen dauert mir zu lange, ich will einfach essen. Es gehört alles zusammen; die Jagd ist der Beginn des Essens.
Du verstehst nicht, antwortete ich ihm müde. Jeder Tag hat nur eine bestimmte Anzahl von Stunden, und es gibt nur eine bestimmte Anzahl von Tagen, um zu tun, was ich tun muss.
Weshalb zerstückelst du dein Leben in Teile und gibst diesen Teilen Namen? Stunden. Tage. Es ist wie mit einem Kaninchen. Wenn ich ein Kaninchen töte, esse ich ein Kaninchen. Er schnaubte verachtungsvoll. Wenn du ein Kaninchen hast, zerlegst du es und nennst es Knochen und Fleisch und Fell und Gedärm. Und so hast du niemals genug.
Und was rätst du mir zu tun, o Weisester der Weisen?
Hör auf zu winseln und tu etwas. Damit ich endlich schlafen kann.
Er versetzte mir einen leichten Gedankenstüber, vergleichbar dem Rippenstoß, wenn einem auf der Wirtshausbank der Nachbar zu dicht auf den Pelz rückt. Plötzlich fiel mir auf, wie eng während der vergangenen Wochen unsere Verbindung gewesen war. Früher einmal hatte ich ihn gescholten, weil er sich ständig in meinem Bewusstsein aufhielt. Ich wollte nicht, dass er mein Zusammensein mit Molly belauschte und hatte versucht, ihm klarzumachen, dass zu solchen Zeiten seine Anwesenheit nicht erwünscht war. Jetzt erinnerte sein Stüber mich daran, dass inzwischen ich es war, der sich an ihn klammerte, wie er sich als Welpe an mich. Instinktiv suchte ich sofort seine Nähe, doch ich unterdrückte den Impuls, lehnte mich auf dem Stuhl zurück und richtete den Blick wieder ins Feuer.
Ich senkte meine Barrieren. Ich war angespannt und hatte einen trockenen Mund, weil ich auf einen Angriff wartete. Als nichts geschah, fing ich an zu überlegen. Ich erinnerte mich daran, dass man mich für tot hielt. Niemand würde im Hinterhalt liegen, um einem Toten aufzulauern. Trotzdem kostete es mich
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