Fitz der Weitseher 03 - Der Nachtmagier
Überwindung, erneut die Tore zu öffnen. Weit weniger schwer war es, mit offenen Augen auf eine sonnenglitzernde Wasserfläche zu schauen oder regungslos auf einen Fausthieb zu warten. Doch als ich es endlich wagte, konnte ich fühlen, wie die Gabe mich umströmte, strudelnd gegen mich anbrandete, als wäre ich ein Fels in einem reißenden Fluss. Ich brauchte nur hineinzutauchen und konnte dort Veritas finden. Oder Will oder Burl oder Carrod. Ich erschauerte, worauf der Strom sogleich zurückwich. Ich fasste neuen Mut und trat auf ihn zu. Lange Zeit stand ich dort und zögerte davor hineinzuspringen. Die Gabe erlaubte kein behutsames Vortasten. Entweder - oder. Ganz oder gar nicht.
Und so wie ich hineinsprang, wurde ich sogleich erfasst und herumgewirbelt und fühlte mein Selbst zerfasern wie ein altes Hanfseil. Fadenstränge, die sich von mir lösten und sich aufdrehten, in all den Schichten, die mein unverwechselbares Ich ausmachten, in Erinnerungen, Gefühlen, in tiefer empfundenen Gedanken, in Versen eines Gedichts, die am Verstand vorbei mitten ins Herz trafen, in Splittern des Alltags, alles wirbelte davon. Es fühlte sich gut an. Und ich brauchte nichts weiter tun, als loszulassen.
Dann aber hätte Galen Recht gehabt mit seinem Urteil über mich.
Veritas?
Keine Erwiderung. Nichts. Er war nicht da.
Ich zog mich wieder zurück, sammelte die verstreuten Teile meines Selbst wieder ein und bündelte sie mit meinem Geist wieder zu einem Ganzen. Es war möglich; ich stellte fest, dass ich in den Strom der Gabe eintauchen konnte und nicht fürchten musste, mich zu verlieren. Warum war es mir früher so schwergefallen? Die Beantwortung dieser Frage konnte warten, es gab Wichtigeres. Wichtiger, nein, sogar furchtbarer war, dass Veritas erst vor wenigen Monaten noch gelebt und zu mir gesprochen hatte. »Sag ihnen, Veritas lebt. Das ist alles.« Und ich hatte es gesagt, aber sie hatten es nicht begriffen, und keiner unternahm etwas. Was konnte diese Botschaft bedeutet haben, wenn nicht eine Bitte um Hilfe? Ein Hilferuf meines Königs war unbeantwortet geblieben.
Plötzlich wurde mir diese Vorstellung unerträglich, und der Gabenruf, den ich wie einen Schrei ausstieß, wirkte so lebendig und leibhaftig wie ein Adler, der sich emporschwingt, um etwas zu suchen und zu finden.
VERITAS!
... Chivalric?
Ein Raunen ging durch mein Bewusstsein und schlug sachte dagegen wie Mottenflügel gegen einen Fenstervorhang. Dieses Mal lag es an mir, Halt zu sein und Stütze. Ich warf mich ihm entgegen und fand ihn. Sein Bewusstsein flackerte, wie die Flamme einer Kerze in ihrem eigenen Teich aus flüssigem Wachs. Ich wusste, bald wäre sie erloschen. Von den tausend Fragen, die mir auf der Zunge lagen, stellte ich die dringlichste.
Veritas, kannst du Kraft von mir empfangen, ohne mich zu berühren?
Fitz? Das kam schwach und zögernd. Ich dachte, Chivalric wäre zurückgekommen... Er schwankte am Rand der Dunkelheit.... um diese Bürde von mir zu nehmen.
Veritas, hör mir zu. Denk nach. Kannst du Kraft von mir beziehen? Jetzt, in diesem Augenblick?
Ich weiß nicht... ich kann nicht... greifen. Fitz?
Ich erinnerte mich an Listenreich, dem ich Kraft gespendet hatte für ein Lebwohl an seinen Sohn. Und wie Justin und Serene sich an ihm festgesaugt und sein Leben aufgezehrt und ihn getötet hatten. Wie er gestorben war - gleich einer Luftblase, die zerplatzt. Gleich einem verglimmenden Funken.
VERITAS! Ich stürzte mich auf ihn, umschlang und stützte ihn, wie er es bei unseren Gabenkontakten oft für mich getan hatte. Nimm Kraft von mir, befahl ich und öffnete mich ihm. Ich zwang mich, an die Wirklichkeit seiner Hand auf meiner Schulter zu glauben, stellte mir vor, wie es sich angefühlt hatte, wenn er oder Listenreich mich als Mittler benutzt hatten. Die Flamme, als die mir Veritas erschien, loderte plötzlich hoch auf und brannte dann hell und stetig.
Genug , warnte er mich und fügte fühlbar stärker hinzu: Sei vorsichtig, Junge!
Nein, hab keine Sorge, ich bin stark genug , beruhigte ich ihn und ließ ihm weiter Kraft zufließen.
Genug!, wiederholte er bestimmt und löste sich von mir. Der Eindruck war, als träten wir beide einen Schritt zurück und musterten uns gegenseitig. Seinen Körper konnte ich nicht sehen, doch ich spürte seine unsägliche Müdigkeit. Dies hatte nichts zu tun mit der gesunden Erschöpfung am Ende eines arbeitsreichen Tages, sondern die dumpfe Zerschlagenheit von endloser Plackerei ohne
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