Fitz der Weitseher 03 - Der Nachtmagier
überwinden.«
»Ich habe keine Ahnung, wie ich das anfangen soll...«, begann ich, aber Krähe drehte sich zu mir um und schaute mich an. Ich sah das Flehen in ihren alten Augen. Darin lagen sowohl Verlust und Einsamkeit als auch ein Hunger nach der Gabe, der sich bis zu einem Punkt gesteigert hatte, an dem er sie von innen her verzehrte. Zweihundertdreiundzwanzig Jahre, dachte ich bei mir. Eine lange Zeit, um sie im Exil fern der Heimat verbringen zu müssen. Eine Ewigkeit, um im eigenen Körper gefangen zu sein. »... aber ich will es versuchen.« Ich streckte ihr die Hand entgegen.
Krähe zögerte, dann griff sie danach. Wir standen uns gegenüber und schauten uns an. Ich tastete mit der Gabe nach ihr, aber da war nichts. Ich sah sie an und sagte mir, dass ich sie kannte und dass es deshalb leicht sein müsste, Krähe zu erreichen. Ich ordnete meine Gedanken und rief mir alles ins Gedächtnis, was ich von der reizbaren alten Frau wusste. Ich dachte an ihre unermüdliche Beharrlichkeit, an ihre scharfe Zunge und ihre geschickten Hände. Ich dachte daran, wie sie mich das Gabenspiel gelehrt hatte und an unsere abendlichen Partien, die Köpfe über das Tuch mit den Steinen geneigt. Krähe, befahl ich mir streng. Du musst nach Krähe greifen. Doch meine Gabe fand sie nicht.
Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber ich hatte furchtbaren Durst. »Ich brauche einen Becher Tee«, sagte ich und ließ Krähes Hand los. Sie nickte mir zu, ohne sich ihre Enttäuschung anmerken zu lassen. Ich musste erst eine Art Benommenheit abschütteln, bevor mir bewusstwurde, wie weit die Sonne bereits über den Berggipfeln nach Westen gewandert war; dann hörte ich auch wieder das monotone Scharren von Veritas’ Schwert. Kettricken saß mit Nachtauge an ihrer Seite noch immer schweigend da und schaute ihm zu. Ich wusste nicht, wohin die anderen gegangen waren. Zusammen mit Krähe begab ich mich zurück an unsere noch schwelende Feuerstelle. Ich zerbrach Zweige und Äste zu handlichen Stücken, während sie den Kessel mit Wasser füllte. Wir sprachen kaum, während wir darauf warteten, dass es kochte. Schließlich tranken wir ebenso schweigend gemeinsam unseren Tee. Das Scharren von Metall auf Stein wurde zu einem Hintergrundgeräusch wie das Summen von Insekten. Ich musterte die alte Frau neben mir. Die Alte Macht vermittelte mir den Eindruck einer starken und ungebrochenen Vitalität in ihr. Ich hatte die Hand der alten Frau in der meinen gespürt, das weiche Fleisch um die geschwollenen, knochigen Finger, die Schwielen auf der Haut. Ich betrachtete die Falten in Krähes Gesicht. Alt, sagte ihr Körper zu mir. Alt. Doch mein besonderer Sinn sagte mir, da saß eine Frau meines Alters, voller Lebendigkeit und Unternehmungslust, die sich nach Liebe und Abenteuer sehnte und nach allem, was das Leben zu bieten hatte; aber sie war eine Gefangene ihrer selbst. Ich bemühte mich deshalb, in dieser Frau nicht Krähe zu sehen, sondern Falkin. Wer war sie gewesen, bevor man sie lebendig begraben hatte? Unsere Blicke trafen sich. »Falkin?«, fragte ich.
»Das war ich«, antwortete sie ruhig, und ihre Betrübnis darüber schien noch frisch. »Aber sie gibt es nicht mehr, und es hat sie seit vielen Jahren schon nicht mehr gegeben.«
Als ich ihren Namen aussprach, hatte ich schon fast geglaubt, sie zu spüren. Mir kam es so vor, als hätte ich den Schlüssel in der Hand, ohne jedoch das Schloss zu finden. Da kam am Rand meiner Wahrnehmung eine leichte Unruhe auf, worauf ich ärgerlich über die Störung den Kopf hob. Es waren Nachtauge und der Narr. Der Narr sah elend aus. Er tat mir leid, doch er hätte sich keine schlechtere Zeit aussuchen können, um mit mir sprechen zu wollen. Und er wusste es.
»Ich habe versucht, mich fernzuhalten«, sagte er gequält. »Merle hat mir gesagt, was du zu tun versuchst. Von ihr weiß ich alles, was besprochen wurde, während ich bewusstlos war. Ich weiß, ich sollte warten, aber... ich kann es nicht.« Plötzlich wich er meinen Augen aus. »Ich habe dich verraten«, flüsterte er hohl. »Ich bin der Verräter.«
Da wir durch das Gabenband verbunden waren, vermochte ich das ganze Ausmaß seines Elends zu ermessen. Ich bemühte mich, ihn zu erreichen und ihm zu vermitteln, was ich fühlte. Man hatte ihn benutzt, um mir zu schaden, ja, aber daran trug er keine Schuld. Doch ich konnte ihn nicht berühren. Scham, Schuldbewusstsein und Reue standen zwischen uns und hinderten ihn daran, meine Vergebung
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