Fitz der Weitseher 2 - Der Schattenbote
unter einem bleigrauen Himmel. Der Wind hatte den Schnee über die an einer Brüstung aufgestapelten Skulpturen und Kübel geweht. Ich machte mich schon auf Kettrickens Enttäuschung gefasst, doch inmitten des Schneetreibens auf der Dachterrasse streckte sie die Arme aus und drehte sich wie ein Kind lachend im Kreis. »Es ist wunderschön!«, rief sie aus.
Ich trat einige Schritte weiter vor, weil hinter mir die anderen aus der Tür kamen. Kettricken war schon bei dem formlosen Schneehügel angelangt, der über den achtlos aufgestapelten Statuen, Vasen und Blumentrögen lag. Einer eingeschneiten Engelsgestalt streifte sie so behutsam den Schnee von der Wange, als wäre sie die Mutter des Cherubs. Dann wischte sie eine Steinbank frei, hob ihn hoch und stellte ihn da rauf nieder. Er hatte ein beträchtliches Gewicht, doch Kettricken setzte entschlossen ihre Größe und Kraft ein, während sie noch weitere Stücke aus dem Stapel hervorzog. Jedes begrüßte sie mit Staunen und Jubel und bestand darauf, dass ihre Frauen kommen sollten, um die Funde zu bewundern.
Ich hielt mich etwas abseits. Der scharfe Wind, der in Böen über die Terrasse fegte, weckte nicht nur den Schmerz meiner Wunden, sondern auch böse Erinnerungen. Hier hatte ich einmal fast nackt in der Kälte gestanden, während Galen versuchte, mir die Gabe einzuhämmern. Hier hatte ich gestanden, genau an diesem Fleck, während er mich prügelte wie einen Hund. Und hier war es gewesen, wo ich mit ihm gerungen hatte und er in mir all das vernichtete, was ich vielleicht einmal an Gabenpotential besessen hatte. Dies war kein guter Ort für mich. Ich bezweifelte, dass ihn irgendein Garten - und sei er noch so idyllisch - mir jemals verschönern konnte. Dann zog der niedrigere Teil der Brüstungsmauer meinen Blick an, aber ich ging nicht hin, um auf die felsigen Klippen in schwindelnder Tiefe hinunterzuschauen. Der schnelle Tod, den ich damals vor Schmerz und Verzweiflung als den einzigen Ausweg gehalten hatte, würde nie wieder eine Versuchung für mich sein. Ich verbannte Galens alte Verwünschungen aus meinen Gedanken und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf die Königin.
Die weiße Kulisse aus Schnee und Stein brachte ihre klare, pastellfarbene Schönheit zum Leuchten. Es gib eine Blume, die manchmal schon blüht, bevor noch das Frühlingstauwetter die Erde erlöst hat. Es ist das Schneeglöckchen, und daran erinnerte sie mich. Ihr flächsernes Haar war plötzlich golden, ihre Lippen rot, ihre Wangen rosig wie die Königin der Blumen, die hier bald wieder blühen würde. Mit Augen, die so blau waren wie Saphire, betrachtete sie ihre Schätze. Im Gegensatz zu ihr hatten die Hofdamen alle dunkle Haare und schwarze oder braune Augen. Sie duckten sich vor der Kälte in ihre Um hänge. Sie harrten trotz der Unbilden des Wetters tapfer aus, stimmten ihrer Königin zu und teilten ihr Entzücken, wobei sie sich jedoch frierend die Hände rieben oder den Kragen enger um den Hals zogen. Jetzt, dachte ich, müsste Veritas sie sehen, strahlend vor Begeisterung und voller Leben, dann könnte er nicht anders als sie lieben. Ihre brennende Leidenschaft erinnerte mich an ihn, wie er war, wenn es hinausging zur Jagd oder zu einem Aus ritt ins Gelände. Oder wie er früher war.
»Es ist wirklich sehr hübsch hier oben«, ergriff Lady Hoffensfroh endlich das Wort, »aber auch sehr kalt. Und man kann hier wenig tun, solange der Schnee nicht geschmolzen und der Wind milder geworden ist.«
»Aber nein, Ihr irrt Euch!«, rief Kettricken. Sie lachte glücklich und stellte sich wieder in die Mitte der Dachterrasse. »Ein Garten beginnt im Herzen. Gleich morgen muss ich Schnee und Eis wegräumen, und dann müssen all diese Bänke, Statuen und Töpfe aufgestellt werden. Aber in welcher Anordnung? Wie die Speichen eines Rades? Als grünendes Labyrinth? Oder in formaler Gliederung, in Variation von Größe und Thema? Tausend Möglichkeiten der Gestaltung gibt es, und ich muss damit experimentieren. Außer vielleicht, mein Gemahl erinnert sich für mich da ran, wie es früher war. Dann werde ich ihm den Garten seiner Kindheit wiedergeben!«
»Morgen, Königliche Hoheit. Seht, der Himmel wird dunkler, und es ziehen neue Wolken auf«, riet Lady Modeste. Man konnte der nicht mehr ganz jungen Frau ansehen, was sie die vielen Treppenstufen und das Stehen in der Kälte gekostet hatten, doch sie lächelte gütig. »Ich könnte Euch heute Abend beschreiben, was mir von der Anlage dieses
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