Fitz der Weitseher 2 - Der Schattenbote
Küchenjungen über ›König Weises Dummheit und Prinz Veritas’ Märchen‹ lachen hörte, wusste ich, das war Edels Werk. Seit er sich bemühte, mittels der Gabe die Roten Korsaren von unserer Küste fernzuhalten, war Veritas zu einer Art Einsiedler geworden. Die Leute fragten sich, was er überhaupt so lange allein in seinem Turm tat. Natürlich wusste man, dass er von der Gabe Gebrauch machte, aber damit konnte man nicht wirklich etwas anfangen. Dagegen gaben sein abwesender Blick, dass er zu den merkwürdigsten Stunden speiste oder schlief und des Nachts lautlos durch die Gänge der Burg geisterte zu wildesten Vermutungen Anlass. Hatte er den Verstand verloren und jagte einem Phantom nach? Die Spekulationen begannen zu wuchern, und Edel sorgte fortlaufend für fruchtbaren Boden. Er fand Anlässe und Gründe für Bankette und Lustbarkeiten. König Listenreich war selten wohl genug, um daran teilzunehmen, und Kettricken hatte nichts übrig für die geschniegelten Aufschneider, mit denen Edel sich umgab. Ich war klug genug, um mich abseits zu halten. Während unten die Wogen hochgingen, saß ich bei Chade und beschwerte mich über die Geldverschwendung, wenn doch nach Edels Angaben kaum Mittel genug vorhanden gewesen waren, um Veritas’ Expedition auszurüsten. Chade schüttelte darüber nur den Kopf.
Mein alter Lehrer war in letzter Zeit selbst mir gegenüber ungewöhnlich verschlossen. Ich hatte das unbehagliche Gefühl, dass er mir etwas verheimlichte. Geheimnisse an sich waren nichts Neues, denn der alte Assassine steckte bis zum Kragen voller Geheimnisse. Nur wurde ich den Eindruck nicht los, dass seine Verschwiegenheit diesmal mit mir zu tun hatte. Ich konnte ihn nicht danach fragen, dafür bemühte ich mich, ihn genau zu beobachten und dadurch etwas herauszufinden. Sein Arbeitstisch zeugte von seiner regen Aktivität, doch abgesehen von neuen Säureflecken, Brandspuren und Schrammen bekam ich nichts davon zu sehen. Bevor er mich jeweils zu sich rief, schien er genau darauf bedacht zu sein, vorher mustergültig Ordnung zu schaffen. Das war seltsam. Jahrelang hatte ich selbst in seiner Giftküche saubergemacht, und dass er jetzt eigenhändig aufräumte, war entweder ein stummer Vorwurf an meine Adresse, oder er wollte vor mir geheim halten, woran er arbeitete.
Zwar erhielt ich keinen Aufschluss darüber, worum es sich bei seinem Geheimnis handeln könnte, dafür sah ich vieles, was mir zuvor entgangen war. Chade wurde alt. Kälte hatte er nie gut vertragen, doch inzwischen vermochten auch gemütliche Abende am warmen Kaminfeuer nicht mehr die Steifheit aus seinen Gelenken zu vertreiben. Er war Listenreichs älterer Halbbruder, ein Bastard wie ich, und trotz seiner Gebrechen wirkte er immer noch wie der Jüngere der beiden. Doch mir fiel auf, dass er beim Lesen die Schriftstücke mit ausgestrecktem Arm von sich weghielt und es vermied, nach etwas zu greifen, das sich über seinem Kopf befand. Diese Veränderungen an ihm zu Bemerken, das war nicht weniger schmerzlich, als zu wissen, dass er ein Geheimnis vor mir verbarg.
Dreiundzwanzig Tage nach Veritas’ Ausbruch kam ich vormittags von einer Jagd mit Nachtauge zurück und fand die Burg in Aufruhr. Die Atmosphäre erinnerte an ein aufgestörtes Ameisennest, doch ohne die dort herrschende Zielstrebigkeit. Ich ging auf kürzestem Weg zu Sarah, der Köchin, und fragte sie, was geschehen war. Die Küche einer jeden Burg ist im wahrsten Sinn des Wortes auch eine ›Gerüchteküche‹, übertroffen höchstens noch von der Waschküche. Auf Bocksburg war auf das, was in den Küchen gemunkelt wurde, im Großen und Ganzen mehr als Verlass.
»Ein junger Reiterbote ist gekommen, der auf einem halb toten Gaul saß. Holüber soll angegriffen worden sein. Fast der ganze Ort wurde niedergebrannt. Siebzig Entfremdete, wie viel Tote weiß man noch nicht. Auf jeden Fall werden ohne ein Dach über dem Kopf und in dieser Kälte noch mehr sterben. Drei Korsarenschiffe waren an dem Angriff beteiligt, sagte der Junge. Er wurde sofort zu Prinz Edel gebracht, um Bericht zu erstatten. Der Prinz hat ihn dann hergeschickt, damit er etwas zu essen bekommt; er ist jetzt in der Wachstube und schläft.« Sie senkte die Stimme: »Der Junge ist den ganzen Weg von Holüber auf der Küstenstraße hergeritten. Er hat sich in den Ortschaften unterwegs frische Pferde geben lassen, wollte aber nicht dulden, dass ein anderer die Schreckensmeldung überbringt. Er hat mir gesagt, die ganze Zeit
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