Fitz der Weitseher 2 - Der Schattenbote
harzigen Ästen entlangzüngelten, rief sie laut zum schwarzen Himmel empor: »Ihr sollt nicht vergessen werden!« Die Menge antwortete ihr wie mit einer Stimme. Blade, der alte Sergeant, stand mit einer Schere neben dem lodernden Holzstoß und schnitt jedem Soldaten eine fingerlange Haarsträhne ab, ein Symbol der Trauer um einen gefallenen Kameraden. Veritas stand mit in der Reihe und Kettricken hinter ihm, um eine Locke ihres flächsernen Haares zu opfern.
Es folgte eine Nacht, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Nahezu sämtliche Bürger der Stadt kamen zur Burg heraufgewandert und wurden stillschweigend eingelassen. Alle folgten dem Beispiel der Königin und hielten Totenwache, bis der Scheiterhaufen vollkommen niedergebrannt war. Dann füllten sich die Hallen, und im Hof wurden Tische aufgestellt für jene, die drinnen keinen Platz fanden. Ale- und Weinfässer wurden herausgerollt, und es wurde aufgetischt, dass mir die Augen übergingen. Ich hatte nicht geahnt, dass Bocksburg solche Vorräte besaß, doch später erfuhr ich, dass vieles aus der Stadt freiwillig und in großzügiger Spende heraufgeschickt worden war.
Seine Majestät, der König, kam aus seinen Gemächern, wie seit einigen Wochen nicht mehr, und führte von seinem Platz am Hohen Tisch aus den Vor sitz über das Mahl. Seitlich hinter seinem Herrn stand der Narr und nahm, was der König ihm von seinem Teller reichte. In dieser Nacht unterließ er seine Possen und närrischen Reden, selbst die Schellen an seinen Ärmeln und der Kappe waren mit Stoffstreifen umwickelt und ihres heiteren Klangs beraubt. Nur einmal fing ich seinen Blick auf, doch er enthielt keine Botschaft für mich. Zur Rechten des Königs saß Veritas, Kettricken zu seiner Linken, denn natürlich war auch Edel erschienen, wie immer prachtvoll ausstaffiert, so dass nur das Schwarz seiner Kleidung an den traurigen Anlass des Festmahls gemahnte. Er blickte finster drein und trank, wobei ich annehme, dass manche sein verbissenes Schweigen als Ausdruck des Schmerzes deuteten. Ich allerdings spürte den Zorn, der in ihm brodelte, und wusste, irgendjemand würde irgendwo bald für das bezahlen, was er als Affront gegen seine Person betrachtete. Sogar Philia war gekommen. Ihre Anwesenheit war ebenso selten wie die des Königs - und dies war ein weiteres Zeichen der Einigkeit, die wir demonstrierten.
Der König aß nur wenig, doch er wartete, bis alle, die am Hohen Tisch saßen, gesättigt waren, bevor er sich erhob, um zu seinem Volk zu sprechen. Seine Worte wurden an den unteren Tischen wiederholt und in die kleine Halle und draußen im Hof von den Barden weitergereicht. In seiner kurzen Rede nahm er Bezug auf all jene, die wir an die Roten Korsaren verloren hatten. Er sagte nichts von Entfremdung oder von unserem blutigen Tagewerk, sondern sprach von ihnen, als wären sie erst kürzlich in einem Kampf gegen die feindlichen Schiffe gefallen, und mahnte uns nur, wir dürften sie nie vergessen. Dann entschuldigte er sich mit Erschöpfung und Trauer und verließ die Tafel, um sich in seine Gemächer zurückzuziehen.
Nach ihm erhob sich Veritas. Er tat wenig mehr, als Kettrickens Worte vom Vormittag zu wiederholen, heute sei ein Tag der Trauer, bald aber käme die Zeit, Rache zu üben. Seinen Worten fehlten Kettrickens Feuer und Leidenschaft, doch ich konnte sehen, dass er bei den Leuten Wirkung erzielte. Diese nickten zu seinen Worten und begannen untereinander zu reden, während Edel stumm vor sich hin brütete. Veritas und Kettricken verließen die Halle zusammen, sie an seinem Arm, eine betonte Geste, die von den Anwesenden wohl zur Kenntnis genommen wurde. Edel schien von all dem noch nicht genug zu haben. Er blieb sitzen, leerte Becher um Becher und führte murmelnd Selbstgespräche. Ich selbst schlüpfte kurz nach Veritas und Kettricken hinaus, um in mein Schlafgemach hinaufzugehen.
Ich machte nicht den Versuch einzuschlafen, sondern legte mich angekleidet aufs Bett und schaute ins Feuer. Als sich die Geheimtür öffnete, sprang ich auf und stieg die Treppe zu Chades Domizil hinauf. Ich traf ihn so aufgeregt an wie nie, sogar seine bleichen, narbigen Wangen hatten einen rosigen Schimmer. Das graue Haar stand ihm wild um den Kopf, seine grünen Augen glitzerten wie Smaragde. Er ging ruhelos auf und ab. Als ich hereinkam, schloss er mich tatsächlich kurz und heftig in die Arme, dann trat er zurück und lachte laut über meinen schockierten Gesichtsausdruck.
»Sie ist die geborene
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