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Fix und forty: Roman (German Edition)

Fix und forty: Roman (German Edition)

Titel: Fix und forty: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rhoda Janzen
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Tochter anweist zu benutzen, was immer sie in ihrer Speisekammer vorrätig habe – Butter, Margarine oder Hühnerschmalz. Oma rechnete damit, dass die Zutaten je nach Jahreszeit und Budget variierten. Außerdem schien sie sich darauf zu verlassen, dass die korrekten Mengenangaben meiner Mutter über Nacht wundersam zufliegen würden. »Nimm etwas Milch oder ein bisschen Wasser, erwärme es und gebe dann ein wenig Mehl hinzu«, so ihr hilfreicher Ratschlag. Auf der Vorderseite des Kalenderblatts hatte Oma eine kleine Nachricht angefügt: »Ich glaube nicht, dass Heinrich vor Weihnachten nach Hause kommt.«
    »Ich werde für Joel und Erlene Neufeld ein leckeres Huhn kochen«, erklärte meine Mutter jetzt. »Joel und Erlene haben gerade drei Geschwister adoptiert, das älteste ist fünf. Arme kleine Dinger. Ihre leibliche Mutter hatte sie in einem Motel zurückgelassen. Das Älteste konnte sich daraufhin durchs Fenster quetschen und auf Nahrungssuche gehen. Nun haben Joel und Erlene alle Hände voll zu tun. Du kochst die Suppe, und ich mache das Huhn.«
    »Hättest du lieber eine mennonitische oder eine weltliche Suppe?«
    »Oh, mach irgendwas, das wir noch nicht probiert haben!«
    Mit töchterlicher Gehorsamkeit speicherte ich mein Dokument auf dem USB-Stick und folgte meiner Mutter in die Küche.
    Gemeinsam stellten wir uns an die Spüle und wuschen uns die Hände. Meine Mutter fuhr sich mit der Zunge über den Zahn, von dem ihr letzte Woche ein Stück abgebrochen war. »Ich habe nicht mal Nüsse gegessen«, erklärte sie. »Das Stück ist einfach abgefallen. Vielleicht knirsche ich im Schlaf mit den Zähnen. Hier, fühl mal.«
    Folgsam befühlte ich den abgebrochenen Zahn meiner Mutter.
    Dann wickelte sie ein Papiertaschentuch auseinander, das sie in ihrer Hosentasche getragen hatte. Darin lag ein halber, gräulicher Schneidezahn.
    »Könntest du mir bitte mal erklären, warum du ihn in einem Taschentuch mit dir herumträgst?«, fragte ich.
    Sie sah mich überrascht an. »Ein Zahn ist doch ein Knochen«, sagte sie mit sonnigem Gemüt. »Den können sie wieder ankleben.«
    »Ein Stück Zahn anzukleben ist genauso aussichtslos wie der Versuch, sich einen abgebrochenen Fingernagel wieder anzutackern. Trenn dich von ihm, Mama.«
    Sie war die Krankenschwester in der Familie, die salomonische Weise in allen medizinischen Streitfällen. »Aber der Zahn ist noch zu vielem gut. Hab ich dir je von Hildes Zahn erzählt?«
    »Ist er ihr auch abgebrochen?«
    »Nein. Als wir klein waren, hatte Hilde eine große Lücke zwischen den Vorderzähnen. Sie fand es schrecklich. Immer wenn sie lachte, hielt sie sich die Hand vor den Mund, weil sie sich so für diesen Makel schämte.«
    »Ich mag Zahnlücken«, sagte ich. »Aaron hat eine, und wenn er lächelt, sieht er toll damit aus.«
    »Hildes Lücke war viel größer als Aarons. Einen Tag nachdem sie ihre erste Arbeitsstelle angetreten hatte, ging sie zum Zahnarzt und ließ sich einen kleinen Zahn machen, den sie in die Lücke steckte. Es sah lustig aus.«
    »Du meinst, sie hat sich eine Brücke machen lassen, damit man die Lücke nicht sieht?«
    »Nein, einen richtigen Zahn, den sie einfach in den Zwischenraum schob. Nur dass er natürlich viel kleiner und schmaler war als ein normaler Zahn.«
    Mir gefiel die Vorstellung eines Glückszähnchens, das sich zwischen seine Kameraden zwängte. Im Plautdietschen, dem Dialekt der Russlandmennoniten, gibt es eine lustige Bezeichnung für das kühle Herz einer Wassermelone: Abromtje, kleiner Abraham. Das Wort hat mir immer gefallen. In meiner Vorstellung lag zusammengerollt in der Melone ein kleiner Homunculus, eine Art besonders strenger Mini-Dad. Der Kunstzahn meiner Tante erinnerte mich an Abromtje ; wie er so dasaß, klein und konzentriert wie ein Haiku, kein Gran mehr als unbedingt nötig, doch mit erstaunlicher Energie. Wie einfach es wäre, wenn jeder von uns seine schrägen Unzulänglichkeiten mit winzigen Traumzähnchen kaschieren könnte! Und wie befriedigend es für meine Tante Hilde gewesen sein muss, als sie vor sechzig Jahren in den Spiegel sah und sich zu ihrem falschen Zahn in der Größe eines Apfelkerns beglückwünschte. Sie muss sich gedacht haben: Ab heute sehen die Leute nicht mehr meine Lücke, meine Blöße, meine Unzulänglichkeit. Sie sehen nicht mehr das, was ich nie hatte. Sie sehen Raum, der mit Knochen gefüllt ist. Sie sehen die Geschichte meiner Zähne. Sie sehen das Fehlen als Dasein, die Leere als

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