Fix und forty: Roman (German Edition)
Miniaturausgabe eines ansonsten erwachsenen Jesus. Er hebt prophetisch einen Finger, so als wäre er im Begriff, etwas zu verkünden. Ich stellte mir vor, wie Oma vor der Krippe saß und nickte, als glaubte sie, der Kinderkönig spräche ihr persönlich Lob dafür aus, dass sie alles riskiert hatte, um in einem neuen kargen Land noch einmal von vorne anzufangen. »Und was die Rosenbrosche betrifft: Chapeau!«, hörte sie Jesus sagen. »Tolle Idee, sie an der Innenseite deiner Unterhose festzustecken.«
Doch drei Generationen haben ihre Spuren hinterlassen. Vorbei sind die Tage, als eine Papierkrippe ein Familienschatz war, der bei Kerzenschein im Wohnzimmer bewundert wurde. Knapp ein Jahrhundert später ist aus der einst privaten Feier des Glaubens ein öffentliches Schaulaufen geworden. Aber wer bin ich zu sagen, all dies sei schlecht? Zugegeben, einen Schrein in meinem Vorgarten zu errichten liegt mir genauso fern wie missionieren zu gehen, aber hey, der Glaube wird in vielen Formen gelebt.
Deenas Eltern waren mennonitische – inzwischen halb pensionierte – Floristen, und Aarons und Deenas Deko war Zeugnis ihres grenzenlosen und begeisterten Zugangs zum Sortiment von Thiessens ’ Nora Flora . Deena konnte aus allem ein ansehnliches Dekostück zaubern, vor allem unter Zuhilfenahme von halb durchsichtigen Lurexstoffen, drahtverstärkten Schleifen, Seidenblumen und glänzenden Kugeln. Auch für Spielzeugzüge, Keksdosen, Tapetenbordüren und Dioramen fand sie kreative Verwendung. Ich persönlich bevorzuge meine Blumen in der Vase, meine Züge in Europa und meine Tapete im Mülleimer. Nennen Sie mich konservativ, aber wann immer ich diese perfekt geformten drahtigen Schmuckbänder sehe, sehne ich mich heimlich nach den altmodischen Schleifen, bei denen das Band wie schlaffe Hundeohren herunterhängt. Unnatürlich steife Schleifen haben mich immer argwöhnisch gemacht.
Neben dem eigentlichen Weihnachtsbaum im großen Wohnzimmer hatte Deena auf einem Sims vier kleine Weihnachtsbäume aufgestellt, die mit Girlanden umwickelt waren und hektisch blinkten. Doch das Hauptaugenmerk richtete sich auf einen übergroßen mechanischen Teddybären. Rhythmisch hob er immerzu eine künstliche Kerze an die Lippen, als wollte er sie ausblasen. Was dieser Bär und sein Bedürfnis nach Dunkelheit mit Weihnachten zu tun hatten, ich weiß es nicht. Doch seinen Elektromotor konnte ich trotz des imposanten Soundtracks von Mannheim Steamroller hören, der aus den Lautsprechern schallte. In kurzen Abständen stieß der Bär ein leidendes Schweigen-der-Lämmer-Blöken aus, nicht unähnlich den Miniaturschreien der Spülautomatik von Flughafentoiletten.
»Was für ein zauberhaftes Winterwunderland!«, rief meine Mutter.
»Sehr festlich!«, bemerkte mein Vater.
Meine andere Schwägerin Staci kam direkt auf mich zu.
Staci und ich leben viereinhalbtausend Kilometer voneinander entfernt, und wir sehen uns nur alle paar Jahre bei einem Familienfest, wenn ich zufällig in Kalifornien bin. Staci ist eine dieser kurz angebundenen, effizienten, zupackenden Frauen, die Kinder großziehen, Kochshow-Produkte verkaufen, den Elternbeirat vertreten und Wohltätigkeitsveranstaltungen zugunsten der Opfer von Wohnungsbränden organisieren. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund; Staci nennt das Kind immer beim Namen. Eine der Eigenschaften, die ich an ihr mag, ist, dass sie sich gar nicht erst die Mühe macht so zu tun, als stünden wir uns nahe, wo es doch offensichtlich ist, dass dem nicht so ist. Manchmal bin ich jahrelang nicht im Land, und in der Zwischenzeit hat Staci weder angerufen noch Geburtstagskarten mit Katzenmotiven geschickt oder mich gebeten, ihren jährlichen Weihnachtsrundbrief Korrektur zu lesen. Zwischen den Familienfesten ist unsere Beziehung nicht-existent.
Doch wenn uns die Umstände zusammenbringen, krempelt sie die Ärmel hoch und packt den Stier bei den Hörnern. Gäbe es bei Familienfeiern einen Staffellauf, wäre sie diejenige, die sich das Staffelholz als Erste schnappt. Staci, die zwar ein mennonitisches College besucht hat, aber ethnisch keine Mennonitin ist, hat immer eine Offenheit an den Tag gelegt, die für uns in der Familie überraschend war. Mit Ausnahme meiner Mutter sprechen Mennoniten nicht über Körperlichkeiten, vor allem nicht beim Abendessen. Sie offenbaren keine Geheimnisse, vermeiden kontroverse Themen und halten sich nicht auf dem neuesten Stand, was den Status ihrer Libido angeht. Staci dagegen könnte ein
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