Fix und forty: Roman (German Edition)
sechsmonatiges Forschungssemester nicht mehr leisten. Um ein halbes Jahr woanders zu studieren, hätte ich mir nicht nur ein neues Apartment mieten und für Lebenshaltungskosten aufkommen, sondern die Monatsraten und Nebenkosten für unser Haus weiterzahlen müssen. Aber ich war so abgebrannt wie ausgebrannt. Es war, als hätte mich jemand mit Bleihandschuhen ausgeknockt. Was soll’s , dachte ich, schlimmer kann es nicht mehr kommen. Her mit dem Borschtsch . Und so fuhr ich, nachdem ich mich in Michigan nach zwei Monaten vom Schlimmsten erholt hatte, über die Weihnachtsfeiertage nach Hause.
Ganz im Stil eines mennonitischen Autokraten macht mein Vater gern von seinem Recht Gebrauch, durchs Haus zu brüllen, damit meine Mutter alles stehen und liegen lässt, um sich bei ihm im Arbeitszimmer etwas anzusehen.
Meine Mutter knetete in der Küche Tweebakteig und steckte bis zu den Ellbogen im Mehl. »Mary!«, schallte es streng. »Komm und sieh dir das an!« Gehorsam machte sich meine Mutter sofort auf den Weg, wobei sie mit angewinkelten Ellbogen die Hände hochhielt wie ein Chirurg. Ich wusste, was als Nächstes kam, und weigerte mich, das Manuskript, das ich gerade redigierte, eine Sekunde früher beiseitezulegen als unbedingt nötig. Wenige Minuten später erhob mein Vater mit priesterlicher Gravitas ein zweites Mal die Stimme: »Rhoda! Komm, sieh dir das an!«
Mein Vater war sich selbst am treuesten, wenn ich zu arbeiten versuchte und mich konzentrieren musste. Ich brauchte Geld. Schnell. Das Haus am See stand inzwischen zum Verkauf, und meine Maklerin hatte mir seelenruhig versichert, dass es sich verkaufen würde, wenn die Zeit reif war, doch ich war nervös. Es war ein wunderschönes Haus, aber es hatte seine Tücken. Ich stellte mir vor, wie die Immobilienanzeige lauten würde, wenn wir die ganze Wahrheit sagten:
Wunderschönes Anwesen am See, nur einen eisigen Katzensprung von einer tödlichen Landstraße entfernt! Dieses ganz besondere Haus ist so groß, dass sie alle Risse zumauern und für einen milden Winter beten müssen! Unverstellte Einsichten für Spanner! Opossums auf der Veranda! Fertige Einliegerwohnung mit Teppichboden, den Sie niemals selbst ausgesucht hätten – eine echte Beleidigung für das Auge! Derzeitige Bewohnerin so egoistisch, dass sie vorhat, die Bosch -Spülmaschine und den Ferrari unter den Kühlschränken mitzunehmen. Zwei Sexualstraftäter wenige Straßen weiter! Rufen Sie gleich an!
Wegen meiner Wohnsituation hatte ich eingewilligt, als Ghost-Lektorin eine wissenschaftliche Monografie über sakrale Dramentexte des späten fünfzehnten Jahrhunderts zu bearbeiten. Ich redigierte gerade das zweite Kapitel, in dem es um Feo Belcaris mechanische Erfindungen bei der Inszenierung der sacre rappresentazioni ging. Falls Sie zu den Leuten gehören, die noch nie von Feo Belcari gehört haben, kann ich Sie rasch ins Bild setzen. Sie kennen die Weihnachtsaufführungen, bei denen Ihre weißblonde Nichte Jahr für Jahr den Engel Gabriel spielen darf, weil sie diese verblüffend helle Haut hat, mit der sie, und ich meine das positiv, fast wie ein Albino aussieht? Und erinnern Sie sich an die Szene, als Ihre Nichte in ein weißes Laken gehüllt in der Kapelle erscheint und mit hauchdünnem Sopran Vom Himmel hoch singt? Feo Balcari war der Typ, der im späten fünfzehnten Jahrhundert die Technik erfand, dank der Ihre Nichte alias der Engel Gabriel an Metalldrähten hängend über dem Taufbecken herabschweben kann. Viel mehr muss man nicht über ihn wissen, aber das Kapitel, das ich redigierte, war ungefähr fünfzig Seiten lang.
Was ich tat, war ungewöhnlich – ich meine, abgesehen von der Tatsache, dass es auf der Welt vielleicht 16,2 Personen gibt, die mehr über sakrale Dramentexte des fünfzehnten Jahrhunderts erfahren möchten. (Ja, ich gebe es zu, ich bin eine davon.) Manchmal schaffen Kulturwissenschaftler es, ihre besten Freunde zum kritischen Lesen ihrer Manuskripte zu überreden. Es ist keine Überraschung, dass dazu besonders gerne Englischdozenten herangezogen werden. Und falls Sie außerdem Grammatik lieben und auf schier unheimliche Weise jeden Satz der englischen Sprache schematisch aufzeichnen können, sind Ihre Dienste noch mehr gefragt. Ich bin der Freak, der Ihnen erklären kann, warum ein Gerundivum ein Possessivpronomen anstatt eines Objektpronomens verlangt. Wohl wahr, Sie würden mich nicht auf Ihre Party einladen, aber wenn das Überleben der Menschheit von der
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