FJORD: Thriller (German Edition)
Normalerweise hätte Erik ins Krankenhaus gemusst, doch aufgrund des Nebels konnte kein Hubschrauber fliegen. Und die lange Fahrt auf dem Boot wollte Noah Sørensen ihm nicht zumuten. So hatte er seinen Patienten ruhiggestellt. Er hatte gemeint, die Zeit würde jetzt entscheiden, wie es weiterginge.
Trotz des aufmunternden Lächelns hatte Ann Christin gespürt, dass der alte Doktor ihr nicht alles erzählt hatte. Vermutlich, damit sie sich nicht noch mehr sorgte als ohnehin schon. Als ihr Arzt wusste er um ihren labilen Zustand, ihren latenten Depressionen. Doch so lange sie sich um Erik kümmern musste, hatte sie keine Zeit, sich den trüben Gedanken hinzugeben. Und schließlich musste sie auch noch für Jan da sein, der nur schwer von seinem Vater fernzuhalten war.
Sie lief die Treppen hinunter, als es erneut Sturm klingelte, riss die Tür auf und erblickte überrascht ihre Schwägerin. »Sigrid!«
»Ann Christin, es tut mir leid …« Sigrid Mortensen wirkte sichtlich verstört. Ihre halblangen, lockigen Haare waren nass und ungekämmt, so als wäre sie direkt nach der Dusche ohne Blick in den Spiegel aus dem Haus geflüchtet. Auf dem Arm trug sie ihre Tochter Aurora, ihr kleines Ebenbild. Auch sie war nicht wie sonst üblich hübsch zurechtgemacht, sondern wahllos in die nächstbeste Kleidung gesteckt. Sigrid presste sie fest an sich. Das Kind hatte die Arme um den Hals der Mutter geschlungen und versteckte ihr Gesicht.
»Hat Runar dich etwa schon wieder …?« Eigentlich brauchte sie nicht zu fragen, sie sah es am Blick der Schwägerin.
Entschlossen nahm sie ihr die Dreijährige ab, die nach kurzem Zögern die Mutter losließ. »Hallo, mein Mäuschen! Na, du Süße? Was meinst du, möchtest du zum Jan hoch gehen und mit ihm spielen?«
Aurora schüttelte den Kopf.
»Nein?« Ann Christin seufzte. »Na gut, dann hol ich ihn gleich runter und ihr könnt hier unten spielen. Ist das besser?«
Die Kleine nickte und schmiegte sich an die Tante. Ann Christin drückte sie liebevoll an sich und verbiss sich jedes Wort über ihren Schwager, das ihr auf der Zunge brannte.
»Kommt erst mal rein«, meinte sie. »Ich mach uns einen Kaffee, und dann reden wir.«
Sigrid zögerte. »Ich … ich bin nicht nur auf einen Kaffee da«, sagte sie schließlich. »Ich wollte dich fragen, ob ich für ein paar Tage hierbleiben kann. Runar …«
»Natürlich«, fiel Ann Christin ihr ins Wort, und sah erst jetzt den Koffer neben der Tür, »natürlich kannst du bleiben. Möchtest du dein altes Zimmer haben?«
Die Schwägerin nickte dankbar. »Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, nie hier auszuziehen.«
Ann Christin schenkte ihrer Nichte ein aufmunterndes Lächeln und verdrängte den Gedanken an die zusätzlichen Sorgen, die es nun auszuhalten galt.
Dass Ann Christins Blick alle paar Sekunden zur Treppe huschte, blieb auch Sigrid Mortensen nicht verborgen. Sie saßen im Wohnzimmer beim Kaffee und unterhielten sich leise. Die Kinder spielten im Esszimmer, das durch einen großen Durchbruch ans Wohnzimmer grenzte, mit Jans Legosteinen. Die einzige Beschäftigung, die ihn stundenlang fesseln konnte. Dann baute er komplizierte Modelle von Raumschiffen und Baufahrzeugen – entweder nach der Anleitung oder viele schon frei aus der Erinnerung. Ann Christin förderte seine Begabung, wo immer sie konnte. Einmal im Monat holte sie sogar die Spielgruppe zu sich ins Haus. Die sieben Kinder bauten dann gemeinsam an einem Modell von Kongesanger. Jeder brachte ein, was er in dem kleinen Ort zu sehen wünschte oder kannte. Der reale Platz würde zwar niemals für Achterbahnen, riesige Schwimmbäder und Rennstrecken reichen, jedoch war deutlich zu sehen, dass zumindest die Kinder an eine Zukunft für Kongesanger glaubten.
Oft brachte das Streit mit Erik, der seinen Sohn viel lieber draußen in der Natur sah als drinnen im Haus, wo Ann Christin ihn, wie Erik vermutete, vor der Welt beschützen wollte. Vermutlich war das sogar die Wahrheit.
»So, und jetzt erzähl mir mal, was los ist«, verlangte Ann Christin und maß ihre zwei Jahre jüngere Schwägerin mit einem strengen Blick. »War er wieder betrunken? So früh am Morgen?«
Sigrid senkte den Blick, konnte ihr nicht in die Augen schauen. »Eher noch .«
»Er kriegt sich nicht in den Griff!« Ann Christin blies die Luft aus und klatschte mit den flachen Händen auf ihre Oberschenkel. »Wie lange willst du dir das noch mitansehen und gefallen lassen? Irgendwann vergisst
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