FJORD: Thriller (German Edition)
Letzte!«
Ein Poltern schreckte beide auf. Es kam von oben. Erschrocken eilten sie die Treppe hinauf, um nach Erik zu sehen. Ann Christin bemerkte das heruntergeworfene Glas neben dem Nachtschrank. Er musste sich wohl im Schlaf gedreht und es mit dem Arm heruntergerissen haben. Sie atmete auf, deckte ihn liebevoll zu und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn.
»Werd schnell gesund, Schatz«, flüsterte sie leise. Jan rief nach seiner Mutter, und so ging Ann Christin hinunter zu den Kindern, während Sigrid bei ihrem Bruder blieb.
9
Tor Einar Hetland starrte auf die Fotos. Liv Paulsen war tot. Seine Liv. Er wollte es nicht wahrhaben. Wie hatte das geschehen können? Er erinnerte sich an ihren letzten Streit noch ebenso gut wie an ihr erstes Zusammentreffen, gleich nach seiner Ankunft. Tor Einar sollte sich beim Bürgermeister melden. Liv lief ihm direkt in die Arme, als er die Tür zur kleinen Amtsstube passieren wollte. Doch statt zurückzuweichen und Abstand zu suchen, wie es jeder Mensch im ersten Reflex tun würde, wenn er mit einem Unbekannten zusammenstieß, schmiegte sie sich warm und weich an ihn und schenkte ihm ihr bezauberndes, offenes Lächeln, das ihn sofort gefangen nahm. Er vermutete, sie wäre nicht von hier. Ihre Kleidung und ihr Äußeres passten eher nach Oslo als in dieses kleine Kaff, umso verwunderter war er, als sie sich als Tochter des Bürgermeisters vorstellte.
Schneewittchen hatte er sie genannt. Die schwarzen Haare, die milchig-weiße Haut und das leuchtende Rot der Rose an ihrem Hals erinnerten ihn sofort an die Märchengestalt. Liv mochte den Spitznamen nicht. Sie selbst bezeichnete sich als Vamp , aber in Tor Einars Augen war dies nur ein Protest gegen ihren Stand als Tochter des reichsten Mannes von Kongesanger, des Bürgermeisters in dessen dritter Legislaturperiode.
Liv und andere Männer? Sicher, sie hatte ihre Freundschaften, aber die waren vor seiner Zeit. Sie hatte es ihm wieder und wieder versichert. Er spürte die Eifersucht noch wie einen Nachhall tief in sich. Natürlich regten sich die Leute über ihr angebliches liederliches Leben auf, das war auf dem Land eben noch so. In Oslo, woher Tor Einar stammte, verlangte niemand mehr ein keusches Leben von einer jungen Frau. Egal ob sie zur Szene gehörte oder der Normalität des Mittelstandes entsprang. Für ihn selbst war Treue selbstverständlich. Schon immer.
Livs Eltern schienen den Gerüchten, die nur hin und wieder den direkten Weg zu ihnen fanden, ebenfalls nicht zu glauben. Liv war ihr Ein und Alles. Ihr einziges Kind. Geredet wurde immer. Neidisch waren viele. Gerade heute, wo Kongesanger am wirtschaftlichen Abgrund stand. Dabei war es doch gerade der Bürgermeister, der den Leuten mit seinem Geld, dem öffentlichen Amt und seinem Einfluss wieder auf die Füße helfen wollte, indem er mit seinem neuen Hotel den Tourismus in Kongesanger begründete. Das würde allen Menschen hier zugute kommen. Viele neue Jobs schaffen.
Und nun war Liv tot.
Tor Einar Hetland starrte auf die Fotos. Dies war nicht seine Liv. Seine Liv hatte diese Welt verlassen. Das hier waren ihre sterblichen Überreste, nicht mehr. Es lag an Carl Morgan und ihm, den Verantwortlichen zu finden.
10
Runar Mortensen, Sigrids Ehemann und Erik Sommers Schwager, war der Fleischer in Kongesanger. Er hatte das Handwerk bei seinem Vater gelernt und später den Laden übernommen. Seine große, muskulöse Gestalt überragte so gut wie jeden im Ort. Seine barsche, direkte Art verlieh ihm eine seltsame Anziehungskraft gegenüber Frauen und verschaffte ihm Respekt bei den Männern. Zumindest hielt es sie auf Abstand und von Versuchen fern, sich mit ihm anzulegen, wenn er in fremden Revieren wilderte. Aber er hatte auch nichts gegen eine ordentliche Prügelei, um Frust abzubauen. Blieb die Gelegenheit dafür aus, und ließ sich auch keine provozieren, musste seine Frau seinen Frust ausbaden. Sie schaffte es immer irgendwie, ihn zu provozieren, und war es auch nur ihre Nörgelei über zu spätes Heimkommen oder sein angeblich krankes Trinkverhalten.
Bei ihm war Sven Larsen. Sein bester Kumpel, Saufkumpan und Mitwisser. Larsen ging keiner geregelten Beschäftigung nach, verfügte aber immer über Geld. Es kursierten Gerüchte, dass Larsen als Dealer und Hehler in Trondheim zahllosen Geschäften nachging. Das hätte seine häufige Abwesenheit erklärt. Auch mit ihm wollten sich die Leute hier nicht anlegen.
»Was nun?« Larsen,
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