Flagge im Sturm
eilte zu ihrem kleinen Sohn. Als sie zurückkehrte, hatte sie sich ihren Schal über Kopf und Schultern geschlagen und hielt den kleinen Eli warm und sicher in den Armen.
„Eine gute Nacht, Mistress Allyn“, wünschte sie leise, bevor sie zu dem wartenden Caleb ging. „Gestern habt Ihr gesagt, Ihr fürchtet Euch kein bisschen vor dem Mann dort drinnen, und ich habe Euch geglaubt. Jetzt glaube ich, es wird Euch noch leidtun, dass Ihr Euch nicht rechtzeitig gefürchtet habt. “
Als Jonathan erwachte, fiel die Morgensonne durch die Fenster und malte Muster auf die blankgescheuerten Bodendielen. Zum ersten Mal sah er diesen Raum bei Tageslicht, und zu seiner Verblüffung stellte er fest, dass er sich in einer Küche und nicht in einem Schlafzimmer befand.
Wie einen armseligen, winselnden Krüppel hat man mich vor den Herd gelegt, dachte er verächtlich, und versuchte sich in den Kissen aufzusetzen. Er war noch immer furchtbar schwach, und seine Arme zitterten bei der Anstrengung, doch wenigstens schwindelte ihn nicht mehr.
Die Herdstelle in der Küche war aus grauem Stein gefügt und so groß, dass man ein ganzes Kalb darin hätte braten können, und das Sortiment importierter Töpfe und Pfannen würde den Neid der meisten Köche erregen. Das Feuer im Herd war indessen nur klein und erwärmte kaum den Raum. Das viele Geschirr war unbenutzt und leer.
Genauso leer wie mein knurrender Magen, dachte Jonathan. Er stellte sich heiße Haferpfannkuchen mit Ahornsirup, ofenfrische warme Kürbispasteten und Speck vor, der in der Pfanne brutzelte wie damals, als ... wann? Als er ein Kind war?
„Ihr habt Euch also doch noch entschlossen, in die Welt der Lebenden zurückzukehren“, bemerkte die Frau hinter ihm. „Ich dachte schon, Ihr würdet noch den ganzen Ersten Tag durchschlafen.“
Er drehte sich nach der Stimme um und presste sogleich die Augen zu, weil ein messerscharfer Schmerz sein Bein durchfuhr. Jonathan zwang sich dazu, tief durchzuatmen und abzuwarten, bis es nicht mehr so wehtat. Dann öffnete er die Augen wieder und brachte sogar ein Lächeln zustande. Er sagte sich, dass die Frau ihn in seiner Bewusstlosigkeit wahrscheinlich in einem schlimmeren Zustand erlebt hatte. Nachdem er jetzt jedoch wieder bei sich war, wollte er nicht, dass sie ihn kläglich jammern und leiden sah.
Die Frau unterschied sich erheblich von derjenigen, die er geküsst hatte. Zwar bezweifelte er nicht, dass es dieselbe war, doch statt des spitzenbesetzten Nachtgewands trug sie jetzt ein hochgeschlossenes dunkelgraues Kleid, und ein weißes Umschlagtuch verdeckte zudem noch ihre Brüste. Die weißen Leinenmanschetten an den schmalen, schlichten Ärmeln waren schmucklos, und der geradegeschnittene Rock zeigte ebenfalls keine schmückenden Falten oder Kräuselungen.
Das Haar, ihr wunderschönes, seidiges honigfarbenes Haar, war dermaßen streng zurückgebunden, dass auch kein einziges Strähnchen es gewagt hatte, sich etwa unter der weißen Leinenhaube hervorzustehlen.
Die Frau saß sehr steif und gerade auf einem Stuhl, der genauso abweisend aussah wie ihre Kleidung, und in ihren Händen hielt sie ein kleines Altes Testament.
„Ihr seid eine Quäkerin, nicht wahr?“, fragte er leise, was bekümmert und bedauernd zugleich klang.
„Wir selbst nennen uns nicht ,Quäker“, sondern ,Freun-de“, berichtigte sie und schlug leise seufzend das Buch zu. Da er jetzt wach war, brauchte sie sich auch nicht mehr vorzumachen, dass sie sich auf die Heilige Schrift konzentrierte. Das wäre ihr auch kaum möglich gewesen angesichts seiner grünen Katzenaugen, mit denen er sie betrachtete.
Jonathan seufzte ebenfalls, wenn auch aus ganz anderen Gründen. „Was Ihr gestern Nacht anhattet, gefiel mir wesentlich besser, wisst Ihr. “
Demaris errötete, doch ihr Blick blieb fest. Dass er noch wusste, wie sie bekleidet gewesen war, musste ja nicht unbedingt heißen, dass er sich auch an den Kuss erinnerte. „Meinem Gatten hat es auch gefallen, und ich habe es nur getragen, um ihn zu erfreuen.“
„Ach so, Euer Gatte.“ Was hatte er denn erwartet? So hübsche Frauen, Quäkerin oder nicht, waren immer verheiratet. „Ich muss ihm für seine Gastfreundschaft danken.“
Demaris blickte auf das Buch hinunter. „Das könnt Ihr leider nicht, doch es hätte ihn erfreut. Mein Eben ist im Oktober verstorben.“
„Das tut mir sehr leid“, sagte Jonathan aufrichtig. Ihre Trauer war ganz offensichtlich so ehrlich und noch so frisch, dass er davon
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