Flagge im Sturm
Demaris hatte sich die Kapuze über den Kopf gezogen, und ihr ganzes Gesicht mit Ausnahme des Mundes lag im schwarzen Schatten. „Ich möchte mit Euch über die Pistole reden.“
Er seufzte lange und tief. „Zur Hölle, Demaris, was soll ich Euch sagen? Ich bin jetzt zu müde, um jetzt mit Euch die Grundsätze der Quäker zu diskutieren. Hätte ich van Vere nicht die Pistole fortgenommen, würde er mich damit erschossen haben und Euch möglicherweise ebenfalls, und das wär’s dann gewesen. So sehe ich es jedenfalls. Vielleicht hätte ich hinterher nicht schießen sollen, doch das ist der schnellste und einfachste Weg, eine Waffe zu entladen. “ „Darum handelt es sich nicht.“ Sie schwieg einen Moment und schlang die Hände fest um ihre Knie. „Ihr hättet ums Leben kommen können.“
„Hätte Euch das gekümmert?“
„Ach Jonathan, wie könnt Ihr das fragen?“ Ihre Stimme war nur noch ein schwaches Flüstern. „Ihr hattet recht, was Eben betrifft. Man erzählte mir, dass er sofort tot war, als ihn die Kugel getroffen hatte, doch als man ihn zu mir nach Haus brachte, war da noch so viel Blut, und der entsetzte Blick stand noch in seinen Augen, bevor ich sie ihm schloss.“
Sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht zu weinen. „Ich ahnte ja überhaupt nicht, wie viel Blut in so einem Menschen ist. Das alles könnte ich wirklich kein zweites Mal durchmachen, nicht mit Euch. Ihr wolltet mich vor Kapitän van Vere warnen, doch ich wollte nicht auf Euch hören. Und ich dachte auch, ich sei im Recht, als ich Euch untersagte, Ebens alte Muskete aufzubewahren. Große Güte, für wie töricht müsst Ihr mich jetzt halten!“ Eine einzelne Träne rollte über ihre Wange und blieb am Kinn hängen.
„Nein, meine Kleine, töricht seid Ihr nicht“, widersprach er und legte seine Hand über ihre. „Ihr seid nur zu vertrauensselig, doch das würde ich gar nicht ändern wollen. “
Sie schniefte ein bisschen. „Dann wisst Ihr also, dass ich Euch gar nicht wirklich hasse?“
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr überhaupt fähig und in der Lage seid, irgendjemanden zu hassen, Demaris“, antwortete er leise.
Sie schüttelte nur den Kopf. Wie konnte sie ihm jemals klarmachen, wie viel Angst sie davor 'gehabt hatte, ihn zu verlieren? In diesem Punkt war er wohl wie Eben, er glaubte nicht an seine eigene Sterblichkeit. Oder waren vielleicht alle Männer so?
Sie drehte ihre Hände um und schob ihre Finger zwischen seine. „Ihr wart Eurer Sache so sicher bei Kapitän van Vere. So etwas habt Ihr früher schon einmal gemacht, nicht wahr?“ „Was - einen Mann zum Kampf herausfordern, wenn er mich betrügen will?“ Jonathan versuchte ganz gelassen zu sprechen. „Doch, ja, das habe ich wohl.“
„Genau wisst Ihr es jedoch noch immer nicht, nein?“, fragte sie traurig. „Ich habe Euch nicht danach gefragt, doch ich nahm an, wenn Euer Gedächtnis zurückgekehrt wäre, hättet Ihr Nantastket längst verlassen.“
Jonathan umfasste ihre Finger fester, als suchte er Trost in dieser Berührung. „Merkwürdige Dinge fallen mir gelegentlich ein - der Name des Pferdes, das ich als Junge besaß, ein Lied, das meine Mutter immer beim Butterstampfen sang -, doch leider nichts, das mir sagt, wer ich jetzt als Mann bin.“ Er seufzte tief. „Oh, ich könnte ein Vollschiff nach den Bermudas und zurück segeln und jede Landkennung auf der Strecke auswendig hersagen, doch ich könnte Euch nicht den Namen meines letzten Schiffs nennen, und ich weiß nicht, wie ich an Euren Strand geraten bin. Und diese Unwissenheit ist die wahre Hölle, Demaris“, schloss er verzweifelt. „Wirklich, ich bin noch immer so ahnungslos wie ein neugeborenes Kind.“
Das Fuhrwerk kam vor dem Stall zum Stehen, gerade als die ersten Regentropfen fielen. Der Wind trieb sie fast waagerecht vor sich her. Steif erhob sich Jonathan. Demaris folgte ihm, ohne ihre Hand aus seiner zu lösen. Trotz dessen, was in der Höhle geschehen war, wusste sie, dass er zum Schlafen auf den Heuboden zurückkehren würde, und ihr widerstrebte es, ihn jetzt schon gehen zu lassen.
„Ihr sagtet einmal, ich würde Euch brauchen, und das hat sich schon als richtig erwiesen.“ Der Wind schlug ihr die Kapuze zurück, als Demaris Jonathan das Gesicht entgegenhob.
„Ich denke indessen, Ihr braucht mich auch.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, küsste ihn so schnell, dass ihre Lippen seinen Mund kaum richtig berührten, und sprang dann von der Ladefläche,
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