Flagge im Sturm
hinaus. Die Hübschen sind ja leider oft so. Demaris’ Widerspruchsgeist hat dafür gesorgt, dass sie aus der Gemeinde ausgeschlossen wurde.“
„Ja, sie ist genau so, wie Ihr sie beschreibt, Willet“, bestätigte Roger scheinbar überaus bekümmert. „Allerdings ist sie auch die einzige Hinterlassenschaft meines Bruders, und ich sorge mich um sie. Sie lebt ganz allein auf Nantasket, und ich befürchte, ihr wird Übles zustoßen. Ich würde sie gern veranlassen, hierher nach Newport zurückzukehren, sodass ich ihr die Bürde der Farm abnehmen kann. “
„Was verlangt Ihr von mir, Allyn? Falls die Frau nicht bereit ist, ihre eigenen Verirrungen und Verfehlungen öffentlich zu bekennen und zu verdammen, wird die Gemeinde sie auch nicht wieder aufnehmen.“
„Wenn Eure verehrte Frau Gemahlin sich Demaris’ einmal annehmen und mit ihr über die Wünsche ihrer seligen Mutter sprechen könnte, möglicherweise beugt sie sich dann“, sagte Roger eindringlich. „Wenn sie weiß, dass der Trost ihres Glaubens sie wieder erwartet, ist sie vielleicht zur Umkehr bereit. Ihr werdet sie doch sicherlich nicht ganz aufgeben wollen, oder, Willet?“
„Ich werde meiner Gattin den Fall vortragen, und falls sie Eurer Ansicht sein sollte, wird sie Demaris aufsuchen.“ Willet stieß seinen Gehstock auf den hölzernen Kai. „Darüber hinaus, Allyn, vermag ich Euch allerdings nichts zu versprechen.“
Roger war auch so zufrieden genug. Elisabeth Willet wür-de der Herausforderung nicht widerstehen können, Demaris in die Gesellschaft der Freunde zurückzuführen - und damit auch zurück nach Newport. Dann würde Nantasket ihm gehören, einschließlich der versteckten Felshöhle, und er konnte mit seinem neuen Unternehmen beginnen, mit dem Geschäft, das ihn endlich reich machen würde.
Er schüttete sich eine Prise Schnupftabak auf den Handrücken, sog sie ein und genoss den scharfen Duft des Tabaks, der sogleich seinen Kopf erfüllte. Roger war von der Pfeife zum Schnupftabak übergegangen, während er Evelyn umworben und sich ganz nach ihren Vorlieben gerichtet hatte. Die Liebe zum Schnupftabak hatte die Zuneigung zu seiner Gemahlin längst überlebt.
Als er an Evelyn dachte, fiel ihm wieder ein, wie sie ihn vor seinen Freunden und vor Demaris gedemütigt hatte. Diese Zurschaustellung von ein paar blauen Flecken! Er hatte seine Frau stets ausschließlich mit der Hand geschlagen und auch nur dann, wenn sie ihn mit ihren Nörgeleien über das Erträgliche hinaus provoziert hatte. Wie viele andere Ehemänner waren schon so tolerant?
Gleichgültig wie liebreizend Evelyn als junge Maid gewesen war, gleichgültig wie sehr er ihren Körper und ihr Vermögen begehrt hatte, er hätte auf beides verzichten sollen, bis ihr Vater gestorben und das Geld ihr eigenes gewesen wäre. Der Alte hatte seine Tochter ja gegen ihn aufgehetzt, und daran war Rogers Liebe gestorben.
Wenn Evelyn ihm wenigstens ein Kind geboren hätte, wäre sie vielleicht selbst erwachsen geworden, und ihre Ehe wäre anders verlaufen. Eigentlich seltsam, dass er und Ebenezer unfruchtbare Frauen geheiratet hatten.
Roger schob die trüben Gedanken beiseite. Der Frühlingstag war viel zu schön, und die leuchtende Zukunft lag in greifbarer Nähe. Er schnippte ein Tabakstäubchen von dem Spitzenbesatz seiner Halsbinde und kehrte ins Kontor zurück, um seinem Schreiber die revidierten Unterlagen für Willets Surinam-Unternehmung zu diktieren.
9. Kapitel
Schaut, meine Liebe, da ist sie.“ Stolz deutete Jonathan über Demaris’ Schulter hinweg zur Kaverne. „Dortliegt die Antwort auf Eure vor dringlichste Frage.“
„Meine vordringlichste Frage?“ Demaris blickte erst zu dem kleinen vor Anker liegenden Flusssegler hinaus und dann wieder zu Jonathan. „Dann wollt Ihr mir sagen, dass Ihr Euch während der letzten drei Tage auf diesem Boot befunden habt?“
„Nein, Demaris, obwohl das natürlich dazugehört. Ich meinte den Madeira.“
Wo immer Jonathan gewesen sein mag, dachte Demaris, er hat sich offenbar prächtig amüsiert. Selten hatte sie ihn so glücklich gesehen wie in diesem Augenblick. Er lächelte fröhlich in den Wind, und seine offene Weste sowie seine weiten Hemdsärmel flatterten und blähten sich wie Segel. Der Dreitagebart verdunkelte sein Kinn.
„Ihr habt zwanzig Fässer von diesem Madeira und keinen Markt dafür in Newport. Außerdem hat van Vere Euch damit betrogen, der Wein ist nämlich von jämmerlicher Qualität. Ihr könntet ihn
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