Flaming Bess 01 - Das Erbe der Erde
wenn Sie vorher erwachen, im Nichts zwischen den Sternen oder im Orbit um eine fremde Welt, die zu grimmig ist, um uns Menschen eine neue Heimat zu bieten, dann werden Sie wissen, daß sich das Schiff und seine Besatzung in Gefahr befinden. In schrecklicher, tödlicher Gefahr. Dann haben alle anderen Mittel versagt, dann hängt das Leben von hunderttausend Menschen von Ihrem Mut, Ihrer Klugheit ab. Sie sind die Wächterin, Flaming Bess, Sie sind das letzte, verzweifelte Mittel gegen die Gefahren, die dort draußen im Weltraum auf uns warten.
Aber das Schiff hatte sein Ziel schon vor Jahrtausenden erreicht. Warum war sie damals nicht erwacht? Warum erst jetzt? Aufgrund eines technischen Fehlers? War die Kältekapsel beschädigt worden? Oder war es von Anfang an so geplant gewesen? Hatte sie von Anfang an nach dem Willen der Erde diese Rolle spielen sollen, die schützende Hand, die über die Saat der Menschheit wachte, zehn oder zehntausend Jahre lang, schlafend im Eis bis zu dem Zeitpunkt, an dem ihre Schutzbefohlenen in tödliche Gefahr gerieten?
Sie schüttelte verärgert den Kopf.
Unnütze Grübeleien.
Sie mußte sich mit der Realität abfinden; und die Realität war Terminus, der Feind in Schwarz, der den Palast belagerte, in dem die letzten freien Menschen Zuflucht gesucht hatten.
Die Vergangenheit war tot.
Die Erde nicht mehr als ein Mythos.
Also gut, dachte Bess. Vergiß die Vergangenheit; vergiß die Erde; kümmere dich um die Gegenwart, um die Zukunft.
Ein Geräusch über ihrem Kopf.
Sie sah auf, zur Decke aus nacktem Stahl, schimmernd im Licht eines faustgroßen Kristalls.
Das Geräusch wiederholte sich; ein Schatten wie von einem schweren Körper, der langsam näherkroch.
Jetzt entdeckte sie auch die Fugen einer rechteckigen Klappe im Stahl. Ein Durchstieg zur nächsten Etage? Oder der Einstieg zu einem Lüftungsschacht zwischen der Decke und dem Boden des darüberliegenden Raumes?
Das Scharren hielt an. Es näherte sich der Klappe.
Unwillkürlich griff Bess nach dem Waffenholster an ihrer Hüfte, aber es war leer. Sie unterdrückte einen Fluch. Natürlich; bevor McLasky sie von seinen Leuten abführen ließ, hatte er ihr den Destruktor abgenommen — mit der Bemerkung, daß es sich bei der Waffe zweifellos um ein Produkt herculeanischer Technik handelte …
Das Scharren brach ab.
Dafür erklang ein Kratzen, wie von Metall auf Metall, und im nächsten Moment schwang die Klappe nach unten. Ein Gesicht tauchte in der Öffnung auf; das braungebrannte Gesicht eines Mannes mit kurzgeschnittenen, dunklen Haaren und dunklen, fast schwarzen Augen.
Er starrte sie an.
Er keuchte.
Er sagte: »Ich will verdammt sein!«
»Ich nehme an«, sagte Flaming Bess mit leisem Spott, »Sie sind das Palastgespenst.«
Die Bemerkung schien ihn noch mehr zu irritieren. »Was ist … «, begann er laut, um gleich darauf zu verstummen und mit gedämpfter Stimme fortzufahren: »Was, beim Schrein, ist ein Gespenst?« Er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern machte ein warnendes Zeichen in Richtung Tür; offenbar befürchtete er, daß die Wachtposten sie hören und Verdacht schöpfen würden.
Bess runzelte die Stirn. Also gehörte der Fremde nicht zu Muller McLaskys Leuten. Gab es im Palast eine Gruppe, die gegen den Sicherheitsdienst arbeitete? Oder war er ein Spitzel, der sich auf diese Weise ihr Vertrauen erschleichen sollte? Sie beschloß, vorsichtig zu sein. Wenn es im Magisterpalast mehrere Fraktionen gab, die untereinander in Machtkämpfe
verstrickt waren, so war es das Klügste, sich zunächst zurückzuhalten, bis sie mehr über die Ziele der einzelnen Gruppen wußte.
Das Gesicht des Fremden verschwand für einen Moment; dann schob er die Beine durch die Öffnung und ließ sich langsam nach unten. Lautlos federte er den Aufprall ab. Er trug einen mitternachtsblauen Overall, der an der Brust und der Hüfte mit weißen, spiralförmigen Mustern bestickt war. Seine Stiefel waren lackschwarz und sorgfältig poliert.
Er blieb unter der Klappe stehen und starrte sie an. Verblüfft schüttelte er den Kopf. »Ich kann es einfach nic ht glauben, aber … Sie sind es wirklich. Sie sind Flaming Bess, die Frau aus dem Schrein die Alte Kommandantin …
Ich habe Sie im Tempel gesehen«, fügte er hinzu. »Im Eis. Ich hätte nie gedacht, daß … «
Er brach ab.
Bess kam ein Gedanke. »Hat Ka Sie geschickt?« fragte sie.
»Der Clansmann? Nein, er gehört nicht zu uns. Außerdem traue ich ihm nicht über den Weg. Er
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