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Flamingos im Schnee

Flamingos im Schnee

Titel: Flamingos im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wendy Wunder
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zappelig. »Ich soll dich also besser kennen lernen«, sagte sie, als wären sie in einem Roman von Jane Austen.
    »Was möchtest du wissen?«, fragte Ryan.
    »Ganz ehrlich?«
    »Ich bin ein offenes Buch.«
    »Ich möchte etwas über deine Absichten erfahren.« Cam blieb bei der Ausdrucksweise einer Figur von Jane Austen.
    »Meine Absichten?«
    Ein leichter Wind flüsterte in den Kiefernwipfeln über ihnen, und von fern hörte Cam das Klopfen eines Spechts.
    »Ja. Gegenüber Lily. Sie glaubt, dass du sie liebst.«
    Ryan setzte sich gerade auf und kreuzte die Beine. Das Wort Liebe machte ihn wohl unruhig.
    »Ich beabsichtige, die gemeinsame Zeit, die uns noch bleibt, zu genießen«, antwortete er und nahm sich eine Nektarine aus dem Korb.
    »Was ist mit dem anderen Mädel?«, wollte Cam wissen.
    »Was soll mit ihr sein?«
    »Machst du mit ihr Schluss?«
    Ryan warf die Nektarine in die Luft, fing sie auf und biss schmatzend hinein. Mit vollem Mund – wo bleibt die Etikette ?, fragte sich Cam – und stahlhartem Blick drehte er sich zu ihr um und sagte: »Wozu sollte das gut sein?«
    »Was denn?« Lily überraschte sie von hinten. Sie hatte noch ein kleines Blut-Tattoo auf dem Unterarm, aber ansonsten war keine Spur mehr von dem Nasenbluten zu sehen.
    Ryan stand auf und ging weg.
    »Was hat er denn?«, fragte Lily.
    »Keine Ahnung«, sagte Cam.
    Beim Abendessen im Haus, nachdem Cam den Fauxpas begangen hatte, von ihrem Platzteller zu essen, las Perry die peinliche Liste von Wundern vor, die sie bislang in ihrem Notizbuch zusammengestellt hatte. Nur Perry schaffte es, Wunder auf der I-95 zu erkennen.
    Ein paar der allgemeineren Punkte auf der Liste konnte man durchgehen lassen, zum Beispiel: Nr. 3: Alicia hat seit Atlanta nicht mehr die Geduld verloren . Oder Nr. 7: die Pommes bei McDonald’s . Doch als sie anfing, Dinge wie Gasmotoren und Kräne unter der Überschrift Die Wunder des Transportwesens aufzuzählen, musste Cam einschreiten.
    »Das ist Technologie, Perry, und hat nichts mit Wundern zu tun. Alles, was unter einer -logie zusammengefasst und untersucht und gelehrt werden kann, zählt nicht als Wunder.«
    »Was ist dann mit Engellogie oder Einhornologie?«, entgegnete Perry.
    »Oder Theologie«, meinte Lilys Vater Malcolm grinsend. Er hatte ein breites, gut aussehendes, glatt rasiertes Gesicht mit einem Ansatz von Hängebacken.
    »Ich geb’s auf«, sagte Cam.
    »Und, Cäihem, wie war dein Date mit Andrew?«, fragte Kathy augenzwinkernd. In dieser Familie wurde alles, was unangenehm oder peinlich sein konnte, gnadenlos am Esstisch ausgebreitet, wie das Gerippe des armen Hähnchens, das kalt, entblößt und schamvoll dalag, während der Wind durch seine Knochen pfiff.
    »Er hat mich versetzt«, antwortete Cam und biss herzhaft in ihren Maiskolben, damit man ihr keine Fragen mehr stellte.
    »Er hatte Lacrosse-Training«, ergänzte Lily schnell und hielt dem vorwurfsvollen Blick ihrer Mutter stand.
    »Nun, und wie fandest du Ryan?« Kathy ließ nicht locker.
    Cam wusste, dass sie in der Klemme steckte. »Sehr nett«, sagte sie zurückhaltend.
    Es fiel ihr schwer, ihren zwanghaften Hang zur Ehrlichkeit zu unterdrücken, und als sie ihn endlich niedergetrampelt hatte, war es für alle offensichtlich, dass sie log. Das ist es wahrscheinlich, was man in diesen Benimmkursen lernt , dachte Cam. Etikette bedeutet im Grunde, den Leuten höflich ins Gesicht zu lügen . Diese Fähigkeit wünschte sie sich jetzt.
    »O je«, sagte Malcolm. Sein Gesicht glänzte rosig, was Cam auf das eine oder andere Glas Chardonnay zu viel zurückführte. »Wenn sie jetzt noch sagt, dass sie ihn interessant fand, wissen wir, dass sie ihn nicht ausstehen kann.«
    »Er ist aber wirklich ganz interessant«, beharrte Cam, ob wohl sie wusste, dass sie auf verlorenem Posten kämpfte. »Und sehr höflich.«
    »Lily«, scherzte Malcolm, seinen großen Kopf schüttelnd, »sie mag ihn kein bisschen.«
    »Das habe ich nicht gesagt«, wehrte sich Cam. »Ich mag ihn, Lily. Er hat eine tolle Stimme.«
    »Okay«, unterbrach Kathy den Zwist. »Wer will Pfirsichtarte?«
    Alle schwiegen im ersten Moment. Dann stand Alicia auf und sammelte ein paar Teller ein. »Ich helfe dir mit dem Nachtisch.«
    Als die Mütter in die Küche verschwanden, machte Lily Cam mit strenger Miene ein Zeichen. Nach oben , schien das zu heißen.
    »Ich esse aber gern Pfirsichtarte«, sagte Cam laut.
    »Dann iss sie auf meinem Zimmer.«
    Cam folgte Lily die Treppe hinauf, balancierte

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