Flamingos im Schnee
ihr Pfirsichdreieck auf einem Unterteller und fürchtete sich vor dem Verhör, das ihr bevorstand.
»Was hast du gegen ihn, Cam?«
»Ich habe nichts gegen ihn! Ich hab gesagt, er ist toll«, widersprach Cam.
»Nein, du hast gesagt, er sei nett und interessant und hätte eine tolle Stimme, was in deiner Sprache bedeutet, dass du ihn hasst.«
»Lily, ich habe doch nur zehn Minuten mit ihm geredet, wie soll ich ihn da hassen?«
Lily starrte Cam an und versuchte, die Wahrheit aus ihr herauszubringen. Schließlich gab sie es auf, entspannte sich und lächelte. »Ich möchte doch nur, dass ihr euch mögt.«
»Okay«, sagte Cam. »Wollen wir jetzt an unserem Comic beziehungsweise Drehbuch weiterarbeiten? Ich hab’s mitgebracht.« Begierig stand sie auf und holte es aus ihrem Koffer.
»Klar, ich will nur zuerst noch Ryan Gute Nacht sagen. Fünf Minuten, versprochen.« Lily schlüpfte hinaus und durchquerte den Flur.
Als aus fünf Minuten eine halbe Stunde geworden war, schob Cam ihr gemeinsames Projekt zurück in die Mappe, weil ihr auf einmal schmerzlich klar wurde, wie unreif es wirkte. Einen Comic schreiben. Das war ja wohl das Nerdmäßigste von der Welt. Nur totale Außenseiter oder Zehnjährige träumten davon.
Sie war allein, bloß mit Lilys Sammlung von blonden Trollpuppen zur Gesellschaft. Die Puppen starrten sie unentwegt an, und sie wand sich vor Peinlichkeit. Dann steckte sie den Kopf unters Kissen und rief den Schlaf herbei.
Am nächsten Morgen ging Cam Lily wecken, um sich von ihr zu verabschieden. Lilys Schlafzimmer war weiß. Lilienweiß. Vollkommen weiß, mit Ausnahme eines großen magentaroten Gemäldes von einer stilisierten Gladiole an der Wand gegenüber der Tür. Das Weiß sollte angeblich entspannend wirken, wie Lilys Therapeutin behauptete, die Lily dazu gebracht hatte, ihre schwarzen Wände, auf die sie mit violetter Lackfarbe die Namen ihrer Lieblingsbands gesprüht hatte, zu übertünchen. Cam hingegen fühlte sich von all dem Weiß gestresst. Und wenn man versehentlich etwas verschüttete? Der Druck war zu groß.
Lily lag unter ihrer weichen weißen Wolke von Bettdecke vergraben. Sie war so winzig, dass sich ihr Körper kaum darunter abzeichnete.
Cam setzte sich auf das Bett. »Ich fahre jetzt«, verkündete sie.
Lily kicherte nur unter der Decke.
»Was ist daran so komisch?«
»Moment mal«, sagte Lily, und als sie ihren Kopf herausstreckte, merkte Cam, dass sie telefonierte. »Ich habe gleich Zeit für dich, Cam«, meinte sie und machte eine wegfegende Handbewegung, ehe sie wieder unter der Decke abtauchte und weiterkicherte.
Das klang furchtbar kalt. Habe gleich Zeit für dich. Und diese Geste? Cam hatte es satt, weggefegt zu werden. Sie würde jetzt fahren, und wer wusste, wann sie sich wiedersehen würden. So redeten sie doch nicht miteinander. Habe gleich Zeit für dich.
Auf dem Weg zur Tür bemerkte sie einen Sauerstoffbehälter neben Lilys Schreibtisch aus Plexiglas. Zwei weiße Bilderrahmen standen auf dem Tisch und starrten einander an. Das eine Foto war von Lily und ihr, wie sie in St. Jude auf einem Klinikbett saßen und die Arme umeinandergelegt hatten. Kahler Kopf an kahlem Kopf lächelten sie in die Kamera. Ohne zu überlegen, schnappte Cam es sich und steckte es in ihr Kapuzenshirt. Dann ging sie und schloss die Tür.
»Fertig?«, fragte Alicia von unten aus dem saalartigen Wohnzimmer.
»Ja«, sagte Cam, »ich bin fertig.«
Als sie den Anhänger abfahrbereit machten, wickelte Cam noch ein bisschen extra starkes Isolierband um Darren. Lilys Eltern winkten zum Abschied von der Veranda. Sie wollten gerade losfahren, als Lily herausgerannt kam.
»Hast du sie noch alle, einfach abzuhauen, ohne mir auf Wiedersehen zu sagen?«, keuchte sie und blieb mitten auf der Auffahrt stehen.
»Ich hab’s ja versucht«, sagte Cam und kam ihr auf halbem Weg zwischen Auto und Haus entgegen.
»Ach Cam, schmoll jetzt nicht.« Lily stemmte die Hände in die Hüften. Der Taillenzug ihres hellblauen OP -Anzugs war so festgezurrt, wie es nur ging, und trotzdem fiel der Saum der Hose über ihre Ugg-Hausschuhe bis auf den Boden und saugte den Morgentau auf wie die Wurzeln einer Blume.
»Ich schmolle nicht. Ich freue mich für dich. Viel Glück mit Ryan, und ich hoffe, du bekommst deinen Wunsch erfüllt«, erwiderte Cam distanziert.
»Cam«, bat Lily.
Cam beobachtete einen Marienkäfer, der einen Grashalm hinauf- und auf der anderen Seite wieder hinunterkletterte. »Er benutzt dich
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